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Kannidos Teil 12: Letzte Worte

Ein junger Mann stürzte in den Raum. Ein Jugendlicher, den sie in eine Uniform gesteckt hatten. Er schritt unsicher zu seinem Vorgesetzten und flüsterte ihm aufgeregt zu. Der Offizier sah ihn an und nickte. „Danke“, entließ er ihn.
„Sollten wir nicht … in die Bunker?“, fragte der Jugendliche panisch.
„Das schaffen wir nicht mehr“, stellte der Offizier kühl fest.
„Gut“, antwortete Kannidos. Er wäre beinahe erleichtert gewesen. „Dann kann ich Ihnen ja jetzt alles erzählen.“
Der Jugendliche sah zu ihm hinüber, hilflos. Dann rannte er hinaus, wohl auf der Suche nach einer Rettung. Erst jetzt konnte Kannidos wirklich greifen, was er getan hatte: Er hatte diesen Jungen getötet. Und viele weitere wie ihn. Aber es würde einen Krieg und eine mörderische Gesellschaft beenden. Hoffentlich.
Am Ende hatten sie ihn doch erwischt, zurückverfolgen können, wer wann Zugang zu dem Rechner gehabt hatte, an dem sie diesen Kunststoffkasten gefunden hatten. Auch darüber war er beinahe erleichtert gewesen. Die stete Anspannung, die stete Angst davor, dass sie ihn eines Tages aus seinem Bett zerren würden, hatte ein Ende. Letztlich war es weit weniger dramatisch gekommen. Zwei nette Polizisten hatten ihn in der Bahn angesprochen und gebeten, mitzukommen.
Der Offizier sah ihn erstaunt an. „Also arbeiten Sie doch für die Monarchisten?“
„Ja“, log Kannidos. Sollten Ismene und der Professor den heutigen Tag überleben, würde er sie nicht in Gefahr bringen. Auch wenn er sicher war, dass nichts von dem, was er gleich sagen würde, der Nachwelt erhalten bleiben würde.
„Mit Ihrer antimonarchistischen Vergangenheit?“
Kannidos zuckte mit den Schultern. „So kann man sich ändern.“
„So kann man sich täuschen“, antwortete der Offizier und setzte dann in einem amüsierten Tonfall nach, als würde er die Ironie genießen wie einen guten Wein, „Und ich habe Ihnen nicht einmal Handschellen angelegt.“ 
Er trat ans Fenster seines Büros, weit oben in der Zentrale des militärischen Datenschutzes, aber nicht weit genug, als dass die dichte Wolkendecke den Blick auf die Stadt versperrte. Sie lag halb in Trümmern. Dafür hatte das anhaltende Bombardement gesorgt, das irgendwann auch die planetare Verteidigung überfordert hatte. Allein die wichtigsten Einrichtungen waren gut geschützt. Wenn die Schiffe der Monarchisten nicht gerade in die Atmosphäre eintraten.
Der Offizier drehte sich wieder zu Kannidos und zuckte mit den Schultern: „Vielleicht auch besser so“, erklärte er mit unvermittelter, entwaffnender Ehrlichkeit, „Hätte ich das früher gewusst, hätte ich Sie foltern müssen. Dann wäre der letzte Geruch in unserer beider Nasen Ihr Erbrochenes.“ Er dachte kurz nach. „Also?“, fragte er schließlich, geradezu neugierig, „Wie haben Sie es gemacht? Obwohl Sie uns noch davor gewarnt haben.“
„Das war das Kunststück“, antwortete Kannidos ebenso ehrlich, „Nicht obwohl ich Sie gewarnt habe, sondern indem. Ich hatte für ein Jahr Zugang zur äußeren Flotte. Ich habe ständig Informationen weitergegeben, die ich hier und da aufgeschnappt habe. Aber nie war etwas … Kriegsentscheidendes dabei.“ Ismene hatte alles an die Monarchisten weitergereicht, ohne wirklich etwas zu erreichen. Die Basileia war nur deshalb nicht schon gefallen, weil die aenorianischen Militaristen einen Massenmord verhindert hatten. Dabei war die halbe Flotte der Guten Ordnung zu Bruch gegangen, als sie versucht hatte, monarchistische Kolonien zu besetzen – und zu säubern. Ohne auf den Konsens zu warten, hatten die Militaristen eigenmächtig den Niedergang der Guten Ordnung eingeläutet. Immerhin.
„Aber am Ende musste ich nicht Flottenbewegungen der äußeren Flotte an die Monarchisten verraten. Sondern andersherum. Die Idee kam mir, als ich neben einem Kapitän saß, der seine Schiffe volltanken ließ.“ Der Offizier runzelte sichtlich fasziniert die Stirn. „Er ließ sie volltanken, während die innere Flotte zusammengeschossen wurde und dringend Hilfe brauchte. Er behauptete, Geschwindigkeit und Wendigkeit seien das einzige, was die äußere Flotte am Leben erhält. Deshalb nehme er sich die Zeit, die Schiffe an einer Versorgungsstation volltanken zu lassen. Er dachte wohl, ein Schriftsteller wüsste nicht, dass mehr Treibstoff ein Schiff schwerer, nicht wendiger macht. In Wirklichkeit hielt er die äußere Flotte zurück, damit sie den Siegesruhm für sich haben könnte, sobald sich die innere Flotte zurückgezogen hatte. Und so kam es auch. Er wurde für sein Verhalten belohnt, befördert. Und plötzlich begann ich dieses Muster überall in der äußeren Flotte zu sehen. Auf jeder Ebene.“
Der Offizier nickte vielsagend, als wäre, was ihnen bevorstand, nur die letzte Konsequenz eines Fehlers, den er schon lange eingesehen hatte.
„Das war die erste und einzige wichtige Information, die ich den Monarchisten geben konnte.“
Der Offizier nickte interessiert. „Und das können Sie mir so ruhig erzählen? Obwohl wir gleich sterben werden?“
„Nein“, antwortete Kannidos, „Ich habe furchtbare Angst. Aber aus irgendeinem Grunde … fühlt es sich nicht echt an, sondern weit weg. Und ich hoffe, es wird ein Wunder geschehen und ich überlebe das hier. Ich hoffe, es wird ein Wunder geschehen und wir alle überleben. Vielleicht …“ Er dachte an die Aenorianer. Vielleicht würden sie sich erbarmen. Vielleicht würden sie den Tod von Hunderttausenden verhindern, bevor es zu spät war. Aber vermutlich würden sie nicht rechtzeitig einen Konsens finden. Vielleicht nicht einmal nachdem es geschehen war.
Eida hatte ihm versichert, dass schon jetzt unzufriedene Offiziere, wenn auch aus den falschen Gründen, einen Staatsstreich vorbereiteten. Würde die Hauptstadt zerstört, dann zerfiele auch die Gute Ordnung und die Heimatwelt würde drohen, von den Monarchisten erobert zu werden. Dann würde es eine Intervention geben. Konsens hin oder her.
Das war seine Heldentat. Sein Untergang mit wehenden Fahnen auf hohem moralischen Ross: Die Hoffnung, dass die perfekte Gesellschaft gezwungen werden konnte, ihrem Anspruch gerecht zu werden.
Der Offizier drehte sich wieder zum Fenster: „Ich frage mich, ob es das alles wert war.“ 
„Schade, dass wir es nicht mehr erleben werden“, antwortete Kannidos.
„Nur damit wir uns nicht missverstehen“, erklärte der Offizier wie beiläufig, während er Ausschau hielt, „Wenn … wenn wir uns nicht beide in dieser Situation befänden, wäre ich vermutlich viel wütender. Ich stehe immernoch voll und ganz hinter der Guten Ordnung.“
„Es hätte mich überrascht, wenn nicht. Darum … tue ich etwas derart Furchtbares wie …“ Plötzlich lief eine Träne das Gesicht hinab, „Wie diesen hübschen Jungen umzubringen, dem seine Uniform so gut steht. Weil Leute wie Sie nicht zu überzeugen sind.“ 
Der Offizier sah ihn an, ohne Einsicht, aber mit großer Traurigkeit. Das war das Erschütterndste: Er war, während er zu einem monströsen Verbrechen hielt, immernoch ein Mensch. Und vermutlich dachte er genau das Gleiche über Kannidos.
In der Ferne glühte etwas in den Wolken auf und bahnte sich rot leuchtend einen Weg nach unten.
Kannidos hoffte, dass sein Mann weit weg war. In einem Bunker. So wie er es ihm gesagt hatte, als sie sich am Morgen verabschiedet hatten. Wie er es sich mehrfach hatte versprechen lassen. Er hoffte, er hatte verstanden, wie wichtig … 
Ein Lichtblitz.

Die Kannidos-Reihe basiert auf Der Beste Staat. Darin findet ihr mehr Geschichten aus der Guten Ordnung
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