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Kannidos Teil 11: Der wahre Feind

„Geht wählen!“, verkündeten die Lautsprecher, während eine animierte Graphik zeigte, wo im Stadion die Wahlstationen zu finden waren. Kannidos lehnte gegen seinen Verlobten, den er vor Jahren bei einem dieser Spiele kennengelernt hatte. Seitdem war das ihre Tradition. Auch dass, wie schon damals, seine Arbeitskollegen da waren, die Kannidos sonst kaum zu Gesicht bekamen.
Die erste Halbzeit endete gerade: Die schlechtere Mannschaft lag unverdient vorne und Kannidos hatte das mehr mitgenommen, als er von sich selbst geahnt hätte. Das Publikum war ohrenbetäubend laut geworden: Zwischen den beiden, einander im Halbrund gegenübergesetzten Tribünen wurde der Lärm noch verstärkt. Nur ein Mantel des Schweigens erlaubte es den Spielern auf dem Feld, überhaupt noch miteinander zu kommunizieren. An die Zuschauer dagegen wurden Ohrstöpsel verkauft.
Immerhin waren sie nicht auch noch dem Krach der tausenden anderen Stadien ausgesetzt, in denen die ebenso gefüllten Ränge täuschend echte Projektionen anfeuerten. Eine Tradition besagte, dass der tatsächliche Spielort erst besprochen werden durfte, nachdem alle Zuschauer das Gefühl haben konnten, wirklich dabei zu sein. Natürlich konnte, wer wollte, herausfinden, dass Kannidos in der Hauptstadt dem echten Spiel beiwohnte. Unter der Guten Ordnung war das Pokalfinale eine Art globaler Feiertag geworden, an dem sie nicht nur den Sport, sondern vor Allem sich selbst feierte.
In der Pause sollte es zur Unterhaltung des Publikums einen Schaukampf geben. Die beiden Kämpfer traten in ihren stereotypen Rollen als Monarchist und Demokrat gegeneinander an. Eine Arbeitskollegin seines Verlobten, die neben Kannidos saß, interessierte sich aus irgendeinem Grunde für den Scheinsport und erklärte eifrig, dass die vorherigen Kämpfe eine lange, verworrene Hintergrundgeschichte erzählt hatten. Der Demokrat reichte dem Monarchisten gerade die Hand, bot an, ihre Rivalität beizulegen und sich gemeinsam gegen den eigentlichen Feind zu wenden. Der Monarchist schlug das selbstverständlich aus. „Der Wahre Feind ist ein anderer, maskierter Kämpfer, der immer mit fiesen Tricks kämpft. Du kannst dir ja denken, wer das sein soll“, erklärte sie, als wäre das eine besonders gewitzte, hintersinnige Beschreibung. 
Kannidos nickte höflich, während er über den bevorstehenden Krieg nachdachte. 
„Ich frage mich, ob wir nicht doch in Frieden neben ihnen leben können“, murmelte er schließlich.
„Ich befürchte, das ist utopisch“, antwortete sein Verlobter, der ihn als einziger hören konnte. Es lag ein aufrichtiges Bedauern in seiner Stimme, das Kannidos tröstete. Immerhin war er kein schlechter Mensch. Aber ein menschengerechter Frieden, das war auch ihm unvorstellbar. Das ging nicht. Morden, foltern, entrechten dagegen: Das konnte man machen. Das war erwiesen.
„Ich glaube, ich hole mir mal ein Würstchen“, erklärte Kannidos und löste sich von seinem Verlobten, bevor dessen Kollegin zu einer weiteren, langatmigen Erklärung ansetzen konnte. Er steckte die Hände in die Manteltaschen, schob sich an den anderen Zuschauern in seiner Reihe vorbei, ehe er die Treppe nach oben erreichte. Die schiere Zahl an Menschen, die in dieses Stadion passten, bedrückte ihn, weil sie sich so wenig unterschieden. Er ging einen Tunnel entlang ins Innere, wo sich Klogänger, Würstchenholer und Biernachfüller drängten. Allesamt waren sie Mittäter. 
Eine Werbebotschaft auf einem Bildschirm wies ihn auf viel zu teure, viel zu kleine Mahlzeiten hin, die er im Stadion erwerben könnte: Nur das Schlimmste an der vormaligen Gesellschaft hatte auch die Guten Ordnung nicht zu ändern vermocht. Nachdem er auf der Toilette gewesen war und dort die Nachrichten gelesen hatte, stellte er sich in die Würstchenschlange, die sich nicht bewegte. Eine blonde Frau lehnte vor ihm an der Wand.
„Wie kannst du mit ihm zusammen sein?“, fragte Ismene schließlich.
Kannidos wunderte sich, dass sie etwas derart Persönliches, oder überhaupt etwas Persönliches ansprach. 
„Ich liebe ihn“, antwortete er schließlich „Und ich kann das alles nicht allein.“ 
Für eine Sekunde strömte ihr erst Abscheu übers Gesicht, dann ein kurzer Moment der Reue und schließlich Mitleid. Eine Sekunde später fand sie ihre übliche strenge Mimik wieder. „Du hättest dir jemanden suchen können, der … weniger involviert ist.“
„Du meinst keinen Polizisten?“ Sie antwortete nicht. Kannidos zuckte mit den Schultern. „Er klärt Morde auf. Damit habe ich kein Problem. Er ist nicht involvierter als alle anderen auch. Als ich, bevor du mich gefunden hast.“
„Und was ist mit den Morden, die er nicht aufklärt?“ Die Frage stach Kannidos ins Herz. So hatte er darüber nie nachdenken wollen. Wenn er ehrlich zu sich selbst war, musste er zugeben, dass er seinen Verlobten nie nach seiner Arbeit oder seinem Tag ausfragte, seine Kollegen vermied, genau aus diesem Grunde. Aber er entschied sich, lieber nicht ehrlich zu sich selbst zu sein. Auch jetzt.
„Warst du wählen?“, fragte er schließlich.
„Ja“, antwortete sie.
„Meinst du, die Ergebnisse sind echt?“
„Schau dich um. Wir wissen beide, dass sie es sind. Und Eidas Leute bestätigen das bei jeder Wahl aufs Neue.“
Kannidos nickte. „Ich frage mich, warum sie überhaupt Wahlen abhalten.“
„Um sich zu vergewissern, dass sie weiterhin die übergroße Mehrheit der Menschen hinter sich haben. Darum gibt es auch noch ein Wahlgeheimnis.“
„Was meinst du“, seufzte Kannidos, „wie viele trauen sich nur nicht, mit Nein zu stimmen?“
„Hast du dich getraut?“, fragte sie.
„Ja.“
„Dann niemand.“ Kannidos warf ihr einen missbilligenden Blick zu, aber ging nicht darauf ein.
„Ich bin überrascht, dass es so schnell ging“, sagte Ismene schließlich.
„Mein Roman hat der PA sehr gefallen. Also habe ich Ihnen gesagt, dass ich etwas Ernsthafteres beitragen möchte. Dass ich über diejenigen schreiben möchte, die unsere Gesellschaft schützen.“
„Unsere Art zu leben“, spottete Ismene.
„Wenn wir Glück haben, bringt mich das für mehr in Stellung. Also, wie machen wir das am besten? Gebe ich es dir einfach?“
„Nein. Du wirfst es da vorne in deinem Würstchenpapier in den Mülleimer.“ 
Er sah sie misstrauisch an. „Du weißt, dass ich eine Kopie davon habe, ja?“
Sie verdrehte die Augen. „Keine Sorge, ich wäre nicht hier, wenn ich bei eurem rücksichtslosen, dummen Plan nicht mitmachen würde. Vertrau mir.“
Kannidos nickte. Sie stieß sich von der Wand ab und ging. Kannidos kaufte sein Würstchen, warf das Papier weg und setzte sich wieder zu seinem Verlobten.
„Das Ergebnis der heutigen Wahl“, plärrte es nach der zweiten Halbzeit aus den Lautsprechern, „Über neunzig Prozent Wahlbeteiligung. Über neunzig Prozent Zustimmung für die Einheitsliste der Demokraten und für den Ausstieg aus dem Demilitarisierungsabkommen.“ Die Menge jubelte. Bunte Ballons stiegen in die Luft.

Die nächste Geschichte erscheint in zwei Wochen. Die Kannidos-Reihe basiert auf Der Beste Staat. Darin findet ihr mehr Geschichten aus der Guten Ordnung
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