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Der vergessene Frieden.

Dann kam der Krieg. Der Krieg kam nicht zu uns.
In den Zeitungen wurden Menschen zu Zahlen und Frontlinien. Vor den Filmen und zwischen der Tanzmusik berichteten die Zentralorgane über das Sterben nur einen Ozean entfernt. In den Werkshallen und auf den Baugerüsten saßen wir zusammen über den Radioapparaten mit den Händen vor unseren Mündern.
Kriege hatte es viele gegeben. Es war nicht das erste Mal, dass die Zentralorgane über sie sprachen. Die meisten waren weit weg. Die Kriege, die es hier gegeben hatte, standen in den Geschichtsbüchern. Niemand konnte sich noch selbst an sie erinnern. Man tötete und hatte getötet, um Macht, Geld oder Freiheit zu gewinnen.
Dieser Krieg war anders. Macht und Geld wurden erobert. Nicht um ihrer selbst willen, sondern um zu töten.
Wir saßen über den Zeitungen, in den Kinosälen, vor den Radioapparaten. Und wir schauderten. Die Zentralorgane berichteten hilflos. Kein Funken der sonst so klaren Weltanschauung. Unserer Weltanschauung. Der Mensch war doch das vernünftige Tier, der Nutzenmaximierer, der Idealist.
Nicht in diesem Krieg.
Wir schrieben Aufsätze und Kommentare, um die Weltanschauung zu retten. Wir waren wie Kinder. Wir empfanden es als Kränkung, dass die Welt nicht so war, wie wir sie halb uns gewünscht, halb verstanden hatten. Am Ende siegte die Einsicht: Die Leben mussten gerettet werden. Danach erst die Weltanschauung.
Die Werkshallen brummten mit einem anderen Leben. Wir hatten genug Töpfe und Landmaschinen für ein Jahrzehnt gebaut. Nun bauten wir Bomben und Bomber, Panzer und Granaten. In den Werkshallen ertönte keine Tanzmusik mehr. Die Musik folgte dem andächtigen Rhythmus des Maschinenbaus. Die Zentralorgane verhandelten die Kriegspläne. Das Zentralkomitee versandte Depeschen an die Verteidiger. Sie waren überrascht von uns zu hören. Wir waren der Welt so flüchtig gewesen. Sie hatten uns beinahe vergessen.
Achja. Aenor. Das gab es ja auch noch.
Wir waren wie Kinder und plötzlich waren wir Soldaten. Wir hatten lange darüber verhandeln, streiten, unversöhnlich sein müssen, ehe wir wieder hatten töten können - zusammen. Es war lange her gewesen. Dieses Mal redeten wir uns nicht ein, dass es Helden geben konnte.
Wir weinten, während wir die Zünder in die Brandbomben schraubten. Eine traurige Wut lud unsere Panzer auf fremde Schiffe. Die Verteidiger verstanden, dass wir ihre Freude nicht erwiderten, als sie uns die Hände reichten, in die wir Gewehre legten. Und wir verstanden die Freude, die wir nicht nachempfinden konnten.
Wir weinten, als die Zentralorgane uns berichteten, was unserer Hände Arbeit anrichtete. Es war gegen ihren Sinn. Wir arbeiteten, um zu leben: Wie viele Tote wir ermöglicht hatten. Nie hörten wir, wie viele wir verhindern konnten. Wie viele sie ermordet hätten.
Arbeiter zu sein, genügte nicht. Also wurden wir Soldaten. Wir wurden Matrosen und Piloten. Wir versenkten U-Boote und entzündeten Munitionsfabriken.  Wir machten unsere Kriegspläne mit Zahlen und Frontlinien. Aber wir erinnerten uns, dass es Menschen waren. Wir weinten um sie. Verzweifelten ihretwegen. Und wir hielten jene, die einen Ozean überqueren mussten, um sie zu töten.
Wir sammelten die Namen derer, die nicht zurückkehrten. Wir erzählten einander ihre Geschichten. Wer sie gewesen waren: Welche Witze sie gemacht und welche Musik sie gemocht hatten. Was sie nach dem Krieg hatten tun wollen, welche Geschichten sie erzählt und wen sie geliebt hatten. Wir hielten sie als Menschen in Erinnerung. Aber es kostete mit jedem Toten mehr Überwindung. Mehr Bemühen. Mehr Willenskraft, um ihretwillen über sie zu sprechen, nicht um ihre Namen bloß abzukreuzen. 
Viele Namen, viele Menschen später gaben die Angreifer auf. Erst als ihr halbes Land besetzt, ihre Hauptstadt eine Ruine und ihre Regierung zerfallen war. Erst als wir keine Tränen und keine Verzweiflung, keine Wut mehr übrig hatten. Aber sie gaben auf. Wir hatten sie aufgehalten. Wir hatten Frieden gemacht. Mit Raketen und Maschinenkanonen.
Wir waren erleichtert. Nicht weil das Sterben aufhörte. Sondern weil es aufhörte, uns kalt zu machen. Am Ende hatten wir uns jeden Tag daran erinnern müssen, noch Menschen zu sein. Und in den Anderen noch Menschen zu sehen.
Vielleicht sind wir deshalb nie auf die Suche nach den Tätern gegangen: Aus Angst unfähig zu sein, noch Menschen statt Monstern in ihnen zu finden. Oder schlimmer: Unwillens. Wir hätten uns abverlangt, ihre Gründe zu finden, wie es unsere für sie gescheiterte Weltanschauung geboten hätte. Aber wir waren erschöpft. Hatten keine Kraft und kein Mitgefühl mehr.
Hätten sie weiter getötet, um zu töten? Hätten sie nicht innegehalten, sobald der Feind besiegt und die Macht gewonnen war? War dieser Krieg wirklich anders gewesen? Wir haben diese Frage nie beantwortet. Nicht zusammen. Nicht in den Werkshallen und in den Zentralorganen, nicht vor den Kinofilmen und Radioapparaten.
Wir waren wie Kinder gewesen. Vielleicht haben wir deshalb lieber vergessen: Um Kinder bleiben zu können. Wir widmeten uns neuen Problemen. Solchen, die mit der alten Weltanschauung zu lösen und zu verstehen waren. Das Unverstehbare taten wir als Unfall ab. Trotzdem hat uns der Krieg misstrauisch gemacht. Wir trauen niemandem mehr. Vor Allem nicht unserem eigenen Ratschluss. Wir wissen im Grunde, dass unsere Weltanschauung scheitern kann. Darum verstecken wir sie vor der Welt.
Nun ist das Unverstehbare wiedergekehrt, dessen Wurzel wir nie ergründet und nie aus der Menschheit gerissen haben. Wir trauen uns nicht, ihm entgegenzutreten.
Gerade rechtzeitig haben wir uns erinnert. Manche von uns:
Wenn der Krieg nicht zu uns kommt, müssen wir in den Krieg ziehen. Um ihn zu beenden

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