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Kannidos Teil 9: Ins Geheime

Sie hatte Kannidos einen Zettel zugesteckt, so unauffällig, dass nicht einmal er selbst es bemerkt hatte. Darauf standen ein Datum, eine Uhrzeit und eine Adresse – in einer anderen Stadt. Der Schnellzug, der durch eine luftleere Röhre schoss, brachte ihn in weniger als einer Stunde dorthin.
Auch Rashak war eine durchgeplante Metropolis. Wie er hindurchraste, strahlte auch hier jede Straße, jedes Hochhaus von der Sonne hell erleuchtet in weiß und pastell. Trotzdem war auch Rashak, wie die vielen anderen Städte, gerade eigenartig genug, um sie noch von den anderen unterscheidbar – und interessant zu machen.
Die Urbanität, die große Teile des Planeten bedeckte, war eine menschengemachte, menschengerechte Umwelt. Wenn nur die Menschen nicht wären. Man konnte ein Paradies aus Stahl und Kunststoff erbauen, mit hellen Farben und schönen Formen, ungeheuren Reichtum aufhäufen, jede Arbeit von Maschinen verrichten lassen – aber an einer Gesellschaft, die dazu passen wollte, war die Menschheit gescheitert. Doch die tiefe Enttäuschung, die Kannidos darüber empfand, fand er in keinem der Gesichter wieder – und hätte ein anderer gesucht, hätte er sie auch nicht in seinem erkannt. Aber niemand suchte, da war er sicher.
Eine Nachrichtenseite hatte ein Video von der Festnahme verbreitet. Kannidos war darin zum Glück nicht zu sehen. Innerhalb weniger Minuten hatten Tausende kommentiert. Sie waren dankbar. Sie waren erleichtert, dass die Polizei etwas tat, dass durchgegriffen werde, um das Recht durchzusetzen. Hunderttausenden gefiel das. Schnell waren es Millionen. 
In der Kommentarspalte herrschte eine zivilisierte Barbarei. Nur wenige ergingen sich in gewaltvollen Bestrafungsfantasien oder forderten offen mehr Brutalität. Solche Beiträge wurden schnell gelöscht, verstießen sie doch gegen den guten Ton. Kannidos musste weit in die Untiefen der Beiträge hinabsteigen, ehe er auch nur einen einzigen fand, der das Ende der Magie kritisierte. Zweien gefiel das. Kannidos hatte nicht gewagt, der Dritte zu werden.
Er hatte sich – vermutlich mehr um sich besser zu fühlen, als dass es echte Sicherheit bot – den Weg vom Hauptbahnhof zu seinem Zielort an einem öffentlichen Infopunkt eingeprägt, statt sich von seinem Telephon führen zu lassen. So würde man ihn vielleicht nicht mit dieser Adresse in Verbindung bringen können. Andererseits gab es überall Überwachungskameras.
Die Bahn fuhr aus irgendeinem Grunde nicht in die Straße, in die er wollte, weshalb er einen längeren Fußweg auf sich nehmen musste. Er entschied sich dafür, über die offenen Plätze zu gehen, statt durch die gläsernen Tunnel, die darüber hingen und in denen sich die Menschen eiligen Schrittes drängten. Währenddessen bahnte er sich einen Weg durch Spaziergänger, knutschende Jugendliche und Eltern, die an den Wasserspielen saßen, während ihre Kinder den Platz mit Kreide bemalten. Schon morgen würde nichts mehr von den Zeichnungen zu sehen sein.
Eine Absperrung drängte ihn schließlich in einen der hellen Flure, die die Plätze umrahmten, bis er an einem hohen, breiten Durchgang auf der anderen Seite zum nächsten Platz gelangte. Jeder Gebäudekomplex führte zum nächsten, von einem überdimensionierten Innenhof zum anderen, wie es die Eigenart Rashaks war. Schließlich erreichte er einen Durchgang, vor dem eine Gruppe Hilfspolizisten stand und gelangweilt die Menschen beobachtete. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er der einzige war, der hier hindurchzugehen versuchte. Er hielt inne. „Achtung: Ausfall der Kameraüberwachung“ stand in weißer Leuchtschrift an der Wand neben dem Durchgang.
„Sie können ruhig weiter“, versicherte ein Hilfspolizist desinteressiert. Er hatte das bestimmte Gefühl, dass das alles kein Zufall war.
Zwei nicht videoüberwachte, bis auf ein paar Hilfspolizisten verlassene Plätze weiter, hatte Kannidos sein Ziel erreicht. Er stand vor einem losen Flatterband, das den Eingang eines Hochhauses versperrte. Ein Schild machte darauf aufmerksam, dass hier Gift ausgetreten war. „Zugang nur in Schutzkleidung.“
Er nahm sich einen Moment Zeit, um darüber nachzudenken. Er war allein. Mitten auf einem Platz, mitten in der Öffentlichkeit – nur ohne die Öffentlichkeit. Er sah sich um. Ob er rufen sollte, um sein Echo zu hören? Ob er Angst haben sollte außerhalb der Videoüberwachung, ohne den Schutz allwissender, bei Bedarf herbeieilender Notdienste? Wie hatten frühere Gesellschaften Recht und Ordnung aufrecht erhalten können, ohne den steten Zugriff einer Obrigkeit? Er wusste, dass sie es getan hatten: Aber jetzt, wo er hier war und etwas erlebte, das ihrem Alltag nahe kam, wirkte es beinahe phantastisch. War das der naive Gedanke eines stets in Sicherheitsarchitektur eingehüllten, stets behüteten Menschen, wie es ihn überhaupt erst seit wenigen Jahrzehnten gab? 
Vermutlich, dachte er und zuckte mit den Schultern. Er riss das Band ab. 
Zu seinen Füßen zeigte mit Kreide aufgemalt ein Pfeil zum Fahrstuhl. Neben dem Pfeil stand „Kiffer hier entlang“. Das ließ er sich nicht zweimal sagen.

Die nächste Geschichte erscheint in zwei Wochen. Die Kannidos-Reihe basiert auf Der Beste Staat. Darin findet ihr mehr Geschichten aus der Guten Ordnung.
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