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Kannidos Teil 6: Vor Aller Augen

Ein Augenbot surrte kaum hörbar durch den Gang der prall gefüllten Bahn. Kannidos fuhr ein kalter Schauer über den Rücken: Eine Überwachungsdrohne hatte er lange nicht mehr gesehen, schon gar nicht auf dem „flachen Land“, wo die Hochhäuser ein wenig niedriger und nicht ganz so dicht beieinander standen. Ob sie ihn suchten? 
Nervös schob er die Hände in die Manteltaschen und packte das kleine Spionagegerät, als wollte er sich vergewissern, dass es nicht fortlaufen könnte, um ihn zu verraten. Mit Glück würde er es heute loswerden: Es auch nur für ein paar Tage in seinem Arbeitszimmer aufzubewahren, hatte ihm ein mulmiges Gefühl gegeben, obwohl er genau wusste, dass sein Geliebter nie dort hineinging und schon gar nicht die Schubladen aufbrechen würde.
Er saß direkt vor dem Eingangsbereich der Bahn. Ihm gegenüber, auf der anderen Seite der Tür, hatte eine ältere Dame Platz genommen und auf der rechten Seite des Ganges eine Mutter mit ihrem Kind, das nicht älter als zehn sein konnte. Der Vater stand daneben und hielt sich an einem Griff über seinem Kopf fest. Dort summte der Augenbot an ihm vorbei, scheinbar ohne einem der Fahrgäste besondere Beachtung zu schenken – oder sie ihm.
„Nächster Halt: Hauptbahnhof. Ausstieg in Fahrtrichtung links. Umsteigemöglichkeit zu Zügen des Nah- und Fernverkehr.“
Der Zug bremste abrupt, ehe er unter einer klaren Glaskuppel an einem der zahllosen, mit glänzenden weißen Kacheln bedeckten Bahnsteige hielt. Menschen drängten in die bequemen Sitze des tadellos sauberen Zuges.
Wenigstens hatte ihm der kleine Kasten einen Zweck gegeben. Er konnte sich einreden – er redete sich ein, etwas Wertvolles zu tun. Trotzdem war er froh, das Ding bald los zu sein. Nach der ersten Begeisterung, der kurzen Euphorie, damit davongekommen zu sein, eine lebensbedrohliche Situation überstanden zu haben, hatte sich ein Gefühl ständiger Bedrohung in ihm breit gemacht.
Die Türen schlossen sich. 
Aber der Zug fuhr nicht ab.
Die Tür direkt vor Kannidos öffnete sich wieder – aber keine weitere. Als er verwundert hinaus blickte, bemerkte er vier Polizisten in strahlend weißen Uniformen, die sich auf dem Bahnsteig aufgestellt hatten: Einer sah Kannidos direkt an – und seinen entgleisenden Gesichtsausdruck. Beinahe wäre er vor Schreck aufgesprungen.
Die Beamten betraten die Bahn und umstellten mit bestimmtem, eiligen Schritt ihr Ziel. Der Augenbot war zurückgekehrt, um das Geschehen zu beobachten. 
„Sie sind ...“, begann einer der Polizisten, doch der Familienvater schubste ihn weg, bevor er seinen Satz beenden konnte. „Ey!“, schrien die Beamten und einer von ihnen, „Hören Sie auf damit“, ehe er den Vater packte und beinahe in den Sitz auf das Kind drückte. Das saß still erschrocken mit weit aufgerissenen Augen da, während die Polizisten auf den Vater einschrien: „Hören Sie auf!“ Immer und immer wieder: „Hey!“ und „Hören Sie auf!“ 
Schließlich erbarmte sich einer der Beamten, als immer mehr Fahrgäste erschrocken von der Gewalt nach Luft schnappten und legte mithilfe eines kleinen Geräts an seinem Gürtel den Mantel des Schweigens über das Geschehen. Ein Flimmern in der Luft ließ die Schreie verstummen. Nicht, damit niemand bemerkte, was hier vor sich ging, sondern damit sie ungestört und ungerührt ihre Zugfahrt genießen konnten: Musik hören, etwas für die Arbeit vorbereiten, ein Kreuzworträtsel lösen.
Gemeinsam rissen zwei der Beamten den Vater lautlos zu Boden und legten ihm Handschellen an, ehe sie ihn aufrichten und abführen konnten. „Nun ist aber gut“, rief einer von ihnen, als sich der Verhaftete in der Tür zum Bahnsteig noch wehrte. Erst jetzt sprang das Kind auf, wollte zum Vater und rannte direkt einer Polizistin in die Arme.
Der vierte Polizist stand vor der Mutter. Mit trotzigem Stolz erhob sie sich, nahm das Kind bei der Hand, was dieses als Aufforderung verstand, sich mit ebenso großer Würde zu tragen und ging mit der Polizistin nach draußen. 
„Entschuldigen Sie bitte die Verzögerung“, erklang eine Ansage aus den Lautsprechern der Bahn, „Leider musste die Polizei Zwangsmaßnahmen zur Durchsetzung einer Auflösungsanordnung durch das Amt für die Regulierung Magischer Aktivitäten anwenden. Die Zugfahrt wird in Kürze fortgesetzt“ Kannidos wusste, was das bedeutete: Die Frau war schwanger von einem Mann, mit dem sie magiefähige Kinder bekommen könnte. Das Wiederentstehen der Magie zu verhindern, hieß, das Wiederentstehen von Magiern zu verhindern. Auch wenn das niemand in dieser Deutlichkeit aussprach.
Dann begann jemand zu applaudieren. Dann der nächste. Die Frau, die neben Kannidos saß. Dann alle. Es war als würden sie eine große Anspannung hinfortklatschen, als empfänden sie eine große Erleichterung darüber, dass es eine gute Erklärung für die ungewohnt rohe Gewalt gab. Manche lachten sogar. 
Kannidos saß da. Still. Er hätte am liebsten geschrien. Welche Hoffnung konnte es für so eine Gesellschaft, für solche Menschen überhaupt noch geben? Die nicht einfach nur wegsahen, sondern das Verbrechen begeistert billigten.
Der Augenbot sah ihn misstrauisch an.
Die Frau, die neben ihm saß, gab ihm einen unauffälligen Stoß mit dem Ellenbogen. Sie war blond und an ihr war nichts Bemerkenswertes. Er hatte nicht einmal bemerkt, dass oder wann sie sich neben ihn gesetzt hatte. Er schlug in die Hände, setzt ein Lächeln auf, als wäre – mit ein wenig Verspätung – auch über ihn eine große Erleichterung gekommen. 
Der Augenbot summte davon.


Die nächste Geschichte erscheint in zwei Wochen. Die Kannidos-Reihe basiert auf Der Beste Staat. Darin findet ihr mehr Geschichten aus der Guten Ordnung - und über das Ende der Magie.
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