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Kannidos Teil 5: Kunstfreiheit

An der Tür stand Lektorat. Im Büro dahinter saß an ihrem Schreibtisch eine Frau, die jünger aussah als sie war. Sie trug eine Brille mit riesigen Gläsern und ein breites Grinsen. „Setzen Sie sich“, sagte sie, nachdem sie einander begrüßt hatten.
„Ist Ihnen kalt?“ Er hatte die Hände noch in den Taschen seines Mantels. Sie zitterten vor Anspannung.
„Ich kränkle. Da packe ich mich lieber warm ein.“
„Ah.“ Sie nickte freundlich. „Sie haben mir ja netterweise schon einen Auszug aus ihrem aktuellen Projekt geschickt.“
„Genau.“ Hatte er das zu laut gesagt? Hätte er das überhaupt sagen sollen, statt sie einfach weiterreden zu lassen? Warum hatte er es für eine gute Idee gehalten, inspiriert hierher zu kommen? Wenn er unter Menschen ging, gab ihm das immer das Gefühl, dass man ihm seine innersten Gedanken an der Nasenspitze ansehen konnte. 
Dass er am Eingang der Publikationsaufsicht einfach durch die Sicherheitsschleuse durchgewunken worden war, hatte ihn geradezu in Panik versetzt. Für einen Moment war er sich sicher gewesen, dass er in eine Falle gelaufen war. Dann war ihm eingefallen, dass die Sicherheitsleute ihn kannten – und faul waren. Er hatte sich auf dem Weg nach oben innerlich ausgelacht für seinen Verfolgungswahn. 
„Ich muss ja sagen, ich bin eine treue Leserin“, begann die Lektorin, „Die Muschelsucher ist mein Liebling. Also, wenn es nach mir ginge, wäre das hier alles eine reine Formalie – und natürlich ein schöner Vorwand, Ihre Bücher vor allen anderen lesen zu können“
Kannidos grinste geschmeichelt, ohne zu wissen, ob er sich wirklich so fühlte oder nur so tat: „Danke.“ 
„Aber aus einer professionellen Perspektive sehe ich natürlich auch großes Potential für die Agenda, die wir uns als Publikationsaufsicht für die kommenden Veröffentlichungen gesetzt haben. Eine positive Geschichte, die … über Manipulation und Täuschung hinwegkommt, sich von der dadurch entstandenen Abhängigkeit befreit: Das passt uns sehr gut. Was ich aber noch nicht verstehe, ist, wie Sie die Verknüpfung zwischen der Magie und der ersten Beziehung der Protagonistin herstellen wollen? Von der löst sie sich ja am Anfang des Buches.“
„Natürlich nicht, indem ich sie zu einer Magierin mache“, antwortete Kannidos etwas zu bestimmt für so eine Selbstverständlichkeit.
Die Publikationsaufsicht genehmigte keine Werke mehr, die von Interesse für die Nachwelt sein würden, wenn sie magische Fähigkeiten enthielten. Vor wenigen Tagen hatte das Parlament beschlossen, dass in einem Jahr jede Erwähnung der Maßnahme – des Verbrechens verboten sein würde. Dass auch die Namen der Toten illegal würden. Es reichte nicht, zu morden. Es reichte nicht einmal das Wiederentstehen der Magie zu verhindern. Um ihr ihre Macht zu nehmen, musste sie ungeschehen gemacht werden. Als läge diese Macht schon in ihrem bloßen Namen: Kassandra. 
„Sondern?“, fragte die Lektorin geduldig, geradezu erwartungsfroh.
„Ähm“, begann er. Richtig. Darum hatte er es für eine gute Idee gehalten. Sie würde vermuten, dass er nur verbergen wollte, dass er gerade auf der Brücke eines auf Lichtgeschwindigkeit beschleunigenden Raumschiff saß – und nicht, dass er ein Gerät in der Tasche hatte, mit dem er die Publikationsaufsicht ausspionieren wollte. 
Er war ein geradezu routinierter Lügner geworden. Er zog sich, die Wahrheit über sich, in sein Innerstes, in den Burgfried seiner Gedanken zurück und ließ die Gesellschaft seinen Körper, seine Arbeit und seine Worte erobern. Das alles versetzte ihn nicht mehr in Aufregung. Er musste die Lüge nur gewähren lassen.
Heute dagegen hatte er einen Angriff vor, noch dazu einen, der über Worte hinausging. Also versteckte er sich hinter etwas, auf das sie ihn nicht ansprechen würde. Zumindest hoffte er das. Da musste er seinem nüchternen Selbst jetzt wohl oder übel vertrauen.
„Ich... ich bin mir noch nicht hundertprozentig sicher“, stotterte er. Er musste sich endlich zusammenreißen. Er hatte sich doch etwas zurechtgelegt! „Ich hatte darüber nachgedacht, dass ich die Analogie über den manipulativen und verführerischen Charakter der Magie spanne. Dass sie lügt und täuscht, verspricht, aber nichts einhält … und trotzdem an sich bindet. Oder gerade deshalb. Aus so einer Beziehung zu entrinnen, einen solchen Befreiungsschlag zu landen, ist dann aber natürlich auch eine große Herausforderung.“
Sie sah ihn für einen Moment fasziniert an. „Das ist ein interessanter Gedanke.“
„Aber wie gesagt: Ich bin mir in der ganz konkreten Umsetzung noch nicht sicher. Es hat seinen Grund, warum ich Ihnen einen Auszug vom Ende des Buches geschickt habe. Ich habe von hinten angefangen, zu schreiben. Vielleicht … mh.“ Er könnte das ganze Buch in chronologisch verkehrter Reihenfolge schreiben. Aber dafür war sein Publikum vermutlich nicht klug genug. Er verwarf den Gedanken. „Jedenfalls soll sich diese Analogie dem Leser, dem durchschnittlichen Bürger der Guten Ordnung, so sehr aufdrängen, dass gar nicht ausgesprochen werden muss, worum es geht. Dass er es in seinem Alltag … in den Nachrichten intuitiv wiedererkennt.“
„Dafür würde es sich vielleicht anbieten, sich an den offiziellen Sprachgebrauch anzulehnen. Den hören die Leute ja immer und immer wieder“, regte sie begeistert an. Er hatte sie in der Tasche.
„Ja. Ja, das stimmt.“ Wie einfach er in seine Rolle passen konnte. Wie leicht es ihm fiel, zu schreiben – zu denken, was sie von ihm erwarteten.
„Ich ...“ Ihr Telephon klingelte. „Entschuldigen Sie bitte.“ Sie ging ran. Eine Frauenstimme erklang am anderen Ende, aber Kannidos konnte die Worte nicht verstehen. „Ja? … Ja. Das muss jetzt sein?“ Sie wirkte skeptisch, aber gutmütig. „Natürlich, aber ich habe noch Kannidos hier, ich würde ihn …“ Die Stimme unterbrach sie forsch. „In Ordnung. Alles klar. Kein Problem.“ Eine zu helle Note durchstach ihre Freundlichkeit. Sie war aufgesetzt, wurde Kannidos erst jetzt klar. Jede einzelne Note war unaufrichtig. Oder sprach da die Inspiration?
„Ich muss kurz etwas erledigen. Sie können gerne hier warten“, antwortete sie, schaltete den Bildschirm ihres Rechners aus und ging nach draußen.
Das war der Moment. War das der Moment?
Kannidos sah sich um. Sein Herz schlug ihm bis zum Halse. Er wartete einen kurzen Augenblick. Dann stand er auf, ging auf die andere Seite des Schreibtisches. Er kroch halb darunter, wo die Anschlüsse verborgen waren, ertastete sie nervös mit einer Hand, während er sich mit der anderen abstützte.
Netzwerk … Bildschirm … Universalanschluss.
Ungeschickt zog er das Gerät aus seiner Tasche, manövrierte das Kabel in die Hand, die den Anschluss gefunden hatte, drehte den Stecker erst zur einen, dann zur anderen, dann wieder zur einen Seite. Klick. Er saß.
Durch die Ritzen des kleinen Kastens leuchtete es rot. Und leuchtete. Und leuchtete. 
Kannidos kam es vor wie eine Ewigkeit. Er fragte sich, was er sagen sollte, wenn die Lektorin – oder irgendjemand – die Tür öffnen und ihn so finden würde. Er würde sich nicht herausreden können. Was würden sie mit ihm tun? Ihn nur hinauswerfen? Nein, verhaften lassen. Was würde die Polizei mit ihm machen, um herauszufinden, was er wirklich vorgehatte, woher das Gerät stammte, mit wem er zusammenarbeitete? War das das heroische Ende, das er sich insgeheim wünschte? War der Unterschied zwischen ihm und seinem Rivalen nur die Qualität des Selbstbetruges: Beide wollten sie wenigstens mit wehenden Fahnen untergehen, wenigstens mit der Illusion etwas zu bewirken.
Grün.
Erleichterung durchfuhr ihn mit einem Seufzen. Er riss das Kabel heraus, stand auf und stopfte das Gerät in seine Tasche, umrundete den Tisch und ließ sich wieder in seinen Sitz fallen. Es dauerte fast eine halbe Stunde, ehe die Lektorin wiederkam, während er dasaß und hoffte, nicht schon erwischt worden zu sein.
„Merkwürdig“, sie klopfte auf den Tisch, „Ich dachte, ich hätte den Rechner gesperrt, als ich rausgegangen bin“, murmelte sie, als sie sich gesetzt hatte.
„Sie haben den Bildschirm ausgestellt“, antwortete Kannidos.
„Oh. Stimmt. Na das erzählen Sie mal besser nicht meinem Chef. Oder dem Datenschutz“, scherzte die Lektorin, „Wo waren wir stehen geblieben?“

Die nächste Geschichte erscheint in zwei Wochen. Die Kannidos-Reihe basiert auf Der Beste Staat. Darin könnt ihr mehr über die Gute Ordnung erfahren.
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