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Kannidos Teil 4: Wiedergeburt

Kannidos sprang auf, rannte ins Bad und übergab sich. Mit dem Klicken der Pistole war er zusammengezuckt. Ihm war nichts geschehen, das hatte er sofort gewusst. Aber sein Körper, der sich für eine große Anstrengung, für einen Überlebenskampf gerüstet hatte, war damit überfordert, dass nun … nichts geschehen war.
Die Frau stand hinter ihm in der Badezimmertür, während er sich halb auf dem Boden liegend mit krampfendem Magen über dem Porzellan hielt. Als er fertig war, stieß er sich von der Schüssel, nachdem er den Deckel geschlossen und gespült hatte. Der Geruch hätte ihn sonst noch einmal erbrechen lassen. Es dauerte einen Moment, ehe er sich vom Boden aufsammeln und mit zitternden Händen das Gesicht waschen konnte.
„Wer bist du?“, brachte er schließlich hervor.
„Deine Geburtshelferin“, antwortete sie kühl.
„Was?“
„Du wurdest soeben wiedergeboren. Du bist für deine Sünden gestorben. Und jetzt bekommst die die Gelegenheit, in einem neuen Leben Buße zu tun.“
„Was?“
Sie drückte ihm etwas in die frisch abgetrockneten Hände: Ein kleines Gerät, ein selbst gedruckter Kunststoffkasten, durch dessen Ritzen man die Leiterplatten im Inneren erkennen konnte. Ein Kabel für einen Universalanschluss ragte unsicher daraus hervor.
„Die PA hat dich auf ihre Liste bestätigter Autoren gesetzt. Deswegen wirst du bald einen Termin dort bekommen. Herzlichen Glückwunsch.“
Kannidos schüttelte den Kopf vor Unverständnis: „Was? Was hat das mit irgendwas zu tun?“
Sie stieß sich vom Türrahmen und kehrte in die Wohnküche zurück. Kannidos folgte ihr. Zitternd und unsicher auf den Beinen, entschied er sich trotzdem, sich nicht wieder zu setzen. Er wollte das Geringste an Stärke zeigen. Oder wenigstens kindischen Trotz.
„Du wirst darauf bestehen, dass dieser Termin in drei Tagen um vierzehn Uhr stattfindet. Nicht früher, nicht später. Du wirst pünktlich sein. Du wirst Gelegenheit haben, das Gerät an einen Rechner anzuschließen. Es wird rot aufleuchten, grün, wenn es fertig ist. Dann ziehst du es ab, steckst es ein und bringst es zurück.“
„Warum?“, fragte er gleichermaßen mit Unverständnis und Neugier.
„Darauf ist ein Programm, das einige … Wahrheiten über die Kanäle der PA verbreiten wird.“
Er schluckte. Hustete. „Und dafür all das? Du … du bedrohst mich, richtest mich zum Schein hin …  um das elektronische Äquivalent von Flugblättern zu verteilen? In einer Gesellschaft, die mit dem schlimmsten Verbrechen einverstanden ist?“ Er wurde laut: „Was soll denn darauf zu lesen sein? Dass die Gute Ordnung bereit ist, Millionen zu töten, um die Magie zu vernichten? Da rufen die Leute doch: Ja, genau! Richtig so! Welche Wahrheit willst du denn aussprechen, die nicht schon alle kennen?“ Er ließ sich auf das Sofa fallen, gleichermaßen enttäuscht wie erschöpft.
Sie sah ihn ungerührt an, musterte ihn. Für ihren beherrschten Gesichtsausdruck wirkte sie beinahe überrascht: „Du willst also mehr tun als nur Worte verbreiten?“ War das alles, was sie von ihm erwartet hatte?
„Ich will etwas tun. Nicht bloß sagen, was ohnehin alle wissen oder eine Moralpredigt verbreiten, die sie nicht glauben wollen, vor Allem nicht, um es ihnen dann gleich wieder auszureden … Wie soll ich, wenn das meine Wiedergeburt ist, überhaupt weitermachen? Wie soll ich für diesen Staat schreiben? Wenn das alles ist, wäre es genauso, als täte ich nichts.“
Sie zögerte einen Moment, wägte etwas ab, bevor sie antwortete: „Die 'Flugblätter' sind nur eine Tarnung, damit es eine Antwort auf die Frage gibt, warum jemand in das System eingedrungen ist.“
„Das heißt, ich werde entdeckt werden?“
„Nein. Es kommt darauf an, dass die Informationen auf dem Gerät zu uns zurückkommen. Die Gute Ordnung bereitet einen Krieg vor. Hätten wir Beweise, könnten wir sie denjenigen geben, die ihn verhindern könnten.“
„Die Aenorianer?“
„Die Aenorianer“, antwortete sie, „Du wirst das Gerät mitbringen, wenn du das nächste Mal wieder hier bist. Es ist wichtig, dass du nicht früher wieder herkommst als üblich, um keinen Verdacht zu erregen.“
„Warum sollte das Verdacht erregen? Ich bin sehr unregelmäßig ...“ Er stockte.
Sie legte den Kopf leicht schief, als überlegte sie, ob sie ihm wirklich antworten musste: „Glaubst du, die Polizei weiß nicht, dass du etwa jedes Wochenende hier bist?“ Sie deutete auf die umliegende Wohnung. „Immerhin war dein Lieferant so schlau, die Sprachsteuerung physisch abzuschalten. Aber diese Wohnung wird überwacht.“
„Und warum bin ich dann noch nicht verhaftet worden?“
Sie sah ihn ungläubig an. „Sie brauchen Leute wie dich und Leute wie du brauchen ihre Drogen. Künstlertypen“, setzte sie nach, bevor er fragen konnte.
„Meinetwegen. Aber wie kannst du dich dann hier blicken lassen?“
Ihr Telephon klingelte einmal. Sie zog es aus ihrer Jackentasche. „Ich falle nicht auf. Aber das erkläre ich dir ein anderes Mal. Ich muss los, bevor dein Lieferant wiederkommt.“ Sie warf ihm ein Päckchen hin. Inspiration. Genau, was er jetzt brauchte. „Sag ihm, dass ich hier war und seine Lieferung abgegeben habe. Aber nicht mehr. Und verbringe noch etwas Zeit mit ihm. Er sollte nichts Verdächtiges zu sagen haben, falls er doch noch verhaftet wird. Vergiss nicht: In drei Tagen. Vierzehn Uhr.“ Er nickte.
Sie drehte sich um und ging zur Wohnungstür. Nur um wieder innezuhalten: „Ach und Kannidos, du hast Recht: Worte bedeuten nichts. Du solltest nicht den gleichen Fehler machen wie dein Rivale und wirkliche Veränderung wegen ein paar Worten riskieren.“
Kaum hatte sie die Wohnung verlassen, kehrte Kannidos' Lieferant zurück. Er ließ beinahe seinen Beutel fallen, als er seinen Kunden sah: „Scheiße, ist alles in Ordnung? Du siehst aus, als wärst du gestorben.“


Die nächste Geschichte erscheint in zwei Wochen. Die Kannidos-Reihe basiert auf Der Beste Staat. Darin könnt ihr mehr über die Gute Ordnung erfahren.
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