Top Menu

Kannidos Teil 3: Erkannt

Kannidos war schon wieder nüchtern, als er die Wohnung seines Lieferanten erreichte. 
Hier wurde Inspiration gewogen, verpackt und verkauft. Der Mann, der über die besonderen Fähigkeiten dafür verfügte, war gerade außer Haus und hatte sich ungewöhnlich einsilbig für „später“ angekündigt: Er müsse erst noch seine Vorräte aufstocken. Aber als treuem Kunden von Rang und Namen wurde Kannidos eine gewisse Vorzugsbehandlung zuteil: Die Wohnungstür erkannte ihn und entsperrte sich.
Aus der großen, quadratischen Wohnküche, die dahinter lag, drang ein Geruch, der Kannidos geradezu in Vorfreude versetzte.
Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss. Auf der anderen Seite des Raumes ließ er sich auf das unnachgiebige Sofa nieder, das ihm schon so manches Mal Halt gegeben hatte, als er in sich zu versinken drohte. Gelangweilt zog er sein Telephon aus der Hosentasche und öffnete das neue, noch unveröffentlichte Buch seines erbittertsten Konkurrenten.
Dessen Stil war deutlich kurzweiliger als sein eigener und für viele Leser der Einstieg in ihr gemeinsames Genre, bevor sie zu Kannidos' sprachlich und inhaltlich komplexeren Werken fanden. Auf Betreiben ihres gemeinsamen Verlages hatten sie sich in den Literaturcafés und sozialen Medien als zänkische Rivalen inszeniert, die den Stil des jeweils anderen für minderwertig hielten. Das erhöhte die Aufmerksamkeit für beide Autoren.
In Wirklichkeit mochte Kannidos die Werke seines Wettbewerbers mehr als seine eigenen und regelmäßig tauschten sie private Kritiken ihrer unveröffentlichten Bücher aus. Besonders jetzt, da sein Mitbewerber mit einem Publikationsverbot belegt worden war. Nachdem er seine Ablehnung gegenüber der Guten Ordnung zu offen in seinen Werken versteckt hatte, war Kannidos wohl einer seiner letzten verbliebenen Leser.
Die Tür öffnete sich. Kannidos sah auf. Eine blonde Frau trat ein, ihre Hände hatte sie in den Jackentaschen vergraben. „Er ist noch nicht da“, setzte Kannidos an. Normalerweise hätte sein Lieferant ihm weiteren Besuch angekündigt. Die Frau hatte keinen markanten Gesichtszug an sich, nichts Bemerkenswertes oder Einprägsames. Hätte sein Leben davon abgehangen, Kannidos hätte sie nicht über das streng nach hinten gebundene Haar hinaus beschreiben können. Sie ignorierte ihn, sah sich um. Als wollte sie sichergehen, dass wirklich niemand da war. Etwas stimmte nicht, wurde Kannidos wie ein Stoß in die Magengrube klar. 
Als sich die Tür hinter ihr schloss, kaum Sekunden nachdem sie eingetreten war, zog sie die Hände aus den Taschen. Mit der einen verriegelte sie die Tür. Mit der anderen richtete sie eine Pistole auf ihn.
Er brauchte einen Moment, um das zu begreifen. Dann hob er die zitternden Hände vor sein Gesicht, zeigte seine leeren Handflächen. Ein Schrei würde ihm nicht helfen. Nicht nur, dass sie ihn vielleicht einfach erschießen würde: Man würde ihn genausowenig hören, wie die nächtlichen Feiern, denen er auf diesem Sofa beigewohnt hatte.
„Geld?“, fragte er ängstlich.
„Kannidos“; erklang ihre Stimme in gelassener Professionalität, wie aus einer Gewohnheit, die sich auch von einer Pistole nicht verunsichern ließ, „Ich bin deine Henkerin.“
Sein Herzschlag übertönte ihre Worte fast.
„Du bist angeklagt und verurteilt worden für deine Kollaboration mit der Guten Ordnung. Du bist schuldig, Beihilfe zu ihren Verbrechen zu leisten und ihren Fortbestand zu fördern durch 'erbauliche Literatur'. Du bist beschuldigt beteiligt zu sein am Tod von unzähligen Menschen.“
Kannidos schwieg. Seine Atmung war ihm entglitten. Seine Hände zuckten. Er war ein Zuschauer seiner eigenen Körperlichkeit.
„Hast du letzte Worte? Möchtest du vielleicht um Gnade bitten? Behaupten, du hättest von nichts gewusst?“
„Nein“, krächzte Kannidos. Er brauchte einen Moment, um sich zu finden, um seine Atmung gerade genug an sich zu reißen, um mit brechender Stimme, aber entschieden antworten zu können: „Ich weiß, dass ich ein Mittäter geworden bin. Ich weiß, dass ich nichts getan habe, um es zu verhindern. Ich weiß, dass ich schuldig bin und nichts Anderes verdient habe.“
Sie nickte und legte den Zeigefinger auf den Abzug. Sie hatte ihn erkannt. Wer auch immer sie war, woher auch immer sie wusste: Sie hatte ihn erkannt. Kannidos schloss die Augen.
Er war einverstanden.
Sie drückte ab.

Die nächste Geschichte erscheint in zwei Wochen. Die Kannidos-Reihe basiert auf Der Beste Staat. Darin könnt ihr schon jetzt mehr über die Gute Ordnung erfahren - und über ihr Verbrechen.
Wenn euch meine Geschichten gefallen, empfehlt sie weiter, hinterlasst Lob oder Kritik in der Kommentarspalte, oder unterstützt mich via patreonflattr oder paypal.

Kommentar veröffentlichen

Designed by OddThemes | Distributed by Gooyaabi Templates