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Kannidos Teil 2: Inspiration

„Wie war's bei der PA?“, fragte Kannidos' Geliebter. Sie hielten einander, nachdem sie sich zur Begrüßung geküsst hatten. Kannidos antwortete nicht. Er hatte die Frage nicht einmal gehört.
„Alles in Ordnung?“, setzte sein Geliebter grinsend nach.
„Tut mir Leid. Ich habe mich gerade in deinen Augen verloren.“
Sein Geliebter lachte. Er lachte ihn aus und Kannidos stimmte mit ein.
„Du bist furchtbar kitschig, wenn du romantisch bist.“
„Romantisch ist ein interessanter Euphemismus für das, was ich gerade bin.“ Er küsste ihn.
Nachdem sie einander geliebt hatten, duschte Kannidos. Er war in Gedanken bei einem seiner Werke, er hatte sich vorgenommen zu schreiben. Fest entschlossen setzte er sich ins Wohnzimmer, an den Esstisch auf einen Stuhl. Er breitete seinen Taschenrechner mit Tastatur und Stromanschluss darauf aus. Sein Geliebter hatte es sich indes auf dem Sofa gemütlich gemacht, das nicht nur Telephone verschlucken konnte, sondern auch jeden Antrieb zu arbeiten. Kannidos begann einige seiner Notizen weiterzuführen. Aber etwas nagte an ihm.
„Also: Wie war's bei der PA?“, fragte sein Geliebter schließlich vom Sofa aus. Erneut, wie Kannidos erst jetzt bemerkte.
Um sich von dem abzulenken, was dort aufgeworfen worden war, hatte er sich den Rest des Vormittags in die Nische gesetzt. Das kleine Café, in dem Schriftsteller ein und aus gingen, um zu schreiben, hatte viele seiner treusten Kunden an das Amt für Gute Arbeit verloren. Selbst den Geschichtenerzähler, mit dem er so gerne Zeit verbracht hatte. Der jetzt ein Mittäter war. Genau wie Kannidos. Nur dass man Kannidos nicht hatte entführen und umerziehen müssen.
„Von allen Fragen nach meinem Tag, die du hättest stellen können …“, seufzte Kannidos plötzlich schwermütig.
„Wir müssen auch nicht darüber reden, wenn du nicht willst. Aber es scheint dich zu bedrücken.“
„Nein.“ Er war in Gedanken wieder bei Kassandra. Bei dem, was er hatte sagen müssen. Nicht einmal seinem Geliebten konnte er sich anvertrauen. Besonders ihm nicht. Sollte er das Falsche sagen, müsste Kannidos ihn verlassen. Oder schlimmer noch, würde er Kannidos verlassen, sollte er ihn als das erkennen, was er wirklich war: Ein Verräter an der Sache. Egal welcher. Kannidos wusste nicht, wer er noch war, was überhaupt noch von ihm übrig blieb, wenn er auch ihn verlieren würde. „Es lief gut. Sie werden mich wohl veröffentlichen.“
„Aber?“
„Kein Aber. Tut mir Leid. Ich bin nur etwas im Schreiben versunken.“
„Erst in meinen Augen und nun in deinen Werken. Wird es wieder ein kitschiger Liebesgedichtroman?“
„Ja“, verkündete Kannidos gespielt fröhlich. Mehr um sich selbst zu überzeugen, als seinen Geliebten.
Der seufzte etwas enttäuscht. „So viel verschenktes Potential.“ Sie sahen einander an. „Du könntest mehr.“
Das hatte er schon oft gesagt. Aber dieses Mal traf es Kannidos mehr als sonst. Er starrte für ein paar Minuten die Textwand vor sich an, ehe ihm klar wurde, dass er die Fassade nicht würde aufrecht erhalten können.
„Ich glaube, ich brauche meine Ruhe, damit ich das zu Ende bekomme“, sagte er schließlich, während er sich erhob und hastig sein Schreibzeug zusammensammelte. Er durfte ihn nicht erkennen.
„Du meinst, du brauchst Inspiration“, antwortete sein Geliebter in dem missbilligenden Ton, den Kannidos sonst so liebte, weil er sich so leicht entwaffnen und in einen versöhnlichen Scherz verwandeln ließ.
„Mhmhh“, machte Kannidos bestätigend.
„Mach da drin mal die Fenster auf“, rief ihm sein Geliebter hinterher.
Er hatte sich gerade so in sein Arbeitszimmer retten können, ehe er zerbrach. Mit zitternden Händen schloss er die Tür ab, dann ließ er sich vor seinem Schreibtisch in den Drehstuhl fallen und schlug die Hände vor dem Gesicht zusammen. Sich zu verstecken, war ihm zur Gewohnheit geworden. Er weinte still. Bedacht, kein Geräusch von sich zu geben. Er weinte um Kassandra. Und um sich selbst. Um das Leben, das hätte sein können, die Welt, die hätte sein können.
Was für eine elendige Gestalt er doch war. Aber statt das zuzugeben – wenigstens vor sich selbst – war er noch dazu ein Lügner, ein Blender.
Er schaltete seinen Rechner an, gab das Passwort ein und öffnete ein Dokument. Die schwarzen Geschichten. Geschichten voller Traurigkeit. Voller Einsamkeit. Voller elendiger Gestalten, ohne Hoffnung auf ein gutes Ende. Geschichten, für die es keine Leser gab. Er schrieb seinen Selbsthass aus sich heraus, bis er nicht mehr konnte.
Es dauerte, ehe er sich beruhigt hatte. Dann griff er nach seiner Inspiration, die er in einer verschlossenen Schublade aufbewahrte. Er zündete sie an. Das tat er mittlerweile fast jeden Tag und nur für seinen Termin bei der Publikationsaufsicht hatte er aufgehört, um einen klaren Kopf und vor Allem ein klares Gedächtnis zu haben.
Die Inspiration blockierte etwas in ihm. Den Teil, der zu der Regung Reue in der Lage war. Sie half ihm beim Schreiben nur, indem sie ihm half zu vergessen – oder sich wenigstens nicht erinnern zu müssen. Die Gedanken und Erinnerungen drängten sich dann nicht mehr ungefragt auf. Er hätte sich für sie entscheiden müssen. Aber das tat er nicht.
Heute wollte er sich dermaßen abschießen, dass er vollständig damit ausgelastet sein würde, ein Mensch zu sein. Zu sitzen, zu essen, zu atmen, vielleicht zu lieben. Aber für keinen weiteren Gedanken Platz zu haben.
Er stand leicht benebelt auf, öffnete die Tür.
„Mir ist die Inspiration ausgegangen“, verkündete er, als er am Wohnzimmer vorbeiging.
Sein Geliebter lehnte sich wenig später in den Türrahmen und sah ihm missbilligend dabei zu, wie er seine Schuhe anzog.
„Das ist ein ganz schöner Euphemismus.“
„Wenn du lieber offen aussprechen willst, worum es geht“, antwortete Kannidos scherzhaft. Sein Geliebter lächelte widerwillig. „Außerdem müsstest du mich verhaften, wenn du davon wüsstest.“ Er spielte nicht. Er meinte den Scherz. Er meinte sein eigenes, verliebtes Grinsen. Er konnte wieder ehrlich sein, er musste sein wahres Inneres nicht mehr verstecken. Wie viel so wenig ausmachen konnte.
„Das würde ja auch unsere Hochzeitspläne durcheinander bringen“, sagte sein Geliebter, endgültig entwaffnet. „Aber im Ernst: Ich mache mir nur Sorgen, dass dir das außer Kontrolle geraten könnte. Also sage ich lieber etwas, damit du darüber nachdenkst. Solange du sicher bist, dass du nicht übertreibst ...“ Er brachte den Satz nicht zu Ende.
„Ich weiß“, antwortete Kannidos ohne Gereiztheit, „Danke. Aber ich will wirklich nur mein Buch zu Ende bringen, damit ich auch gleich etwas für die PA habe. Und es hilft.“
„Worum geht es dieses Mal überhaupt?“
„Nicht um uns“, log Kannidos ehrlich und mit einem Lächeln. Es ging immer um sie, um die guten Zeiten, die sie hatten. Das wusste auch sein Geliebter, aber es war ihm ein wenig unangenehm. Also hatten sie einen Scherz daraus gemacht.
„Hach“, schwärmte Kannidos, „weißt du, wenn ich einmal ein reicher und berühmter Schriftsteller bin, baue ich uns ein Haus mit einem Garten – mitten in die Stadt.“ Sein Geliebter lachte ihn wieder aus und küsste ihn zum Abschied. „Da kann ich dann meine eigene Inspiration anbauen.“
Er trat auf den Hausflur, in die Öffentlichkeit. Das Linoleum quietschte unter seinen Füßen. Er sah sich um: Die Menschen flossen vorbei, als hätten sie es nicht bemerkt. Er schob seinen Mantel hoch und versteckte sein Kinn darunter.

Die nächste Geschichte erscheint in zwei Wochen. Die Kannidos-Reihe basiert auf Der Beste Staat. Darin könnt ihr schon jetzt mehr über die Gute Ordnung erfahren - und über den Geschichtenerzähler.
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