Kannidos grinste
freundlich. Dümmlich. So erwartete man es von einem treuen Bürger.
Von einem Untertanen. Gottvertrauen in den Staat. Wenn er nichts zu
befürchten hatte, hatte er ja nichts zu befürchten.
Der Staat wird die Seinen
erkennen.
„Da hing ich noch den
Idealen eines jungen Mannes nach. Und alten Freundschaften“,
antwortete er.
„Und wie stehen Sie
heute dazu?“
„Ich weiß nicht einmal
mehr, warum ich mich dagegen gewehrt habe. Die …
Gesellschaftlichkeit unseres Wirtschaftens, unseres Zusammenlebens.
Der Gemeinsinn, den wir heute haben. Dafür habe ich ja selbst lange
gekämpft.“
Die Lüge fiel ihm
leicht, denn es war die Wahrheit. Erst als andere sie mit aller
Konsequenz und aller Gewalt durchzusetzen begannen, war er vor seinen
eigenen Idealen zurückgeschreckt. Kassandra hatte ihn schon zuvor
vergebens gewarnt: Den Einzelnen der Gesellschaft unterzuordnen,
bedeutete seinen Tod.
Er ahnte, dass seine
Antwort nicht ausreichte: „Aber mittlerweile bin ich froh, dass
getan wurde, was nötig war, um diesen Traum zu verwirklichen. Dass
andere mehr Weitblick hatten als ich.“
„Und Kassandra?“,
stach der Beamte in sein Herz, als könne er seine Gedanken lesen.
Kannidos beruhigte sich schnell: Für einen Staat, der alles wusste,
war es eine naheliegende Frage. „Sind Sie froh, dass das auch für
sie Geltung finden musste?“
„Nein, natürlich
nicht. Auch wenn ich rückblickend immer häufiger feststelle, dass
auch sie einen schädlichen Einfluss auf mich hatte. Nicht, dass ich
ihr einen Vorwurf mache, das liegt ja im Wesen der Magier. Deswegen
war die Gefahr ja auch zu groß, um … um sie in unserer
Gesellschaft zu belassen. Mein persönlicher Schmerz verblasst
dagegen.“
Er simulierte jemanden,
der sich ein Verbrechen rechtfertigen musste. Erst die innere Haltung
eines Täters zu zeigen, machte ihn wirklich zu einem Teil dieser
Gesellschaft. In Wahrheit war die einzige traurige Notwendigkeit, die
er sich zu rechtfertigen hatte, dass er ihr Ansehen beschmutzte.
„Können Sie mir ein
Beispiel geben für diesen schädlichen Einfluss?“
„Es war dieser stete
Antagonismus.“ Er dachte einen Moment nach. „An eine Geschichte
erinnere ich mich noch sehr eindrücklich: Als der heutige
Pressesprecher des Präsidialamtes noch … er war für eine seiner
Vortragsreihen auch an unserer Uni. Unsere Hochschulgruppe wollte
damals mit ihm diskutieren, seine Argumente auf die Probe stellen.
Aber Kassandra hat uns aufgestachelt, die Veranstaltung lieber zu
stören oder ihr ganz fernzubleiben. Sie hat uns so ein … 'Wir
gegen den Rest der Welt'-Gefühl gegeben.“
„Hat sie sich damit
durchgesetzt?“
„Teilweise. Ich bin ihr
damals gefolgt. Zu meiner Schande.“ Es war das einzige, was er je
getan hatte, worauf er noch heute wirklich stolz war. „Andere waren
offen für die Diskussion und sind vermutlich deswegen auch früher
Teil der Guten Ordnung geworden. Wir hatten damals sogar … er war
damals Physikstudent, heute in der Opposition … mir ist sein Name
entfallen.“
„Ich weiß, wen Sie
meinen. Aber das Ganze scheint Sie ja immernoch sehr mitzunehmen.“
„Ja. Ich denke noch oft
darüber nach, welchen Einfluss sie auf mich hatte. Wie sie diesen
Einfluss überhaupt bekommen konnte.“
Der Beamte nickte: „Ja,
eine magische Manipulation wirkt noch lange nach. Die Opfer hängen
noch lange an ...“, er hielt sich davon ab, abzuschweifen, „Aber
das ist auch alles, was ich von Ihnen brauche, um mir ein Bild zu
machen.“
„Gut. Wenn ich Ihnen
noch anderweitig helfen kann, komme ich natürlich gerne noch einmal
vorbei.“
„Ach“, sagte der
Beamte freundlich, während er sich erhob, „Wir werten das zwar
alles nochmal im Detail aus, aber ich denke, da wird es keine
Probleme geben.“ Sie gaben einander die Hand. Kannidos ging zur
Tür, der Beamte begleitete ihn noch hinaus in den Flur.
„Gibt es eigentlich
viele solcher Fälle?“, fragte Kannidos, „Ich überlege, ob ich
meine Erfahrungen damit literarisch verarbeite. Vielleicht darüber,
wie man sich davon löst. Etwas Optimistisches.“ Er wusste, dass
solche Nachgespräche fast genauso wichtig waren wie die eigentliche
Befragung.
„Ja. Ja, da gibt es
viele. Aber auch viel Scham und enorme langfristige Belastungen, über
die die meisten Leute nur ungern sprechen. Denen würde etwas
Optimistisches sicher helfen. Etwas Aufbauendes. Sowas könnten wir
gut gebrauchen.“
Als er aus dem Sitz der
Publikationsaufsicht trat, fand er sich in der beständig vorbeifließenden
Menge der Mittäter wieder. Er war einer von ihnen geworden.
Die nächste Geschichte erscheint in zwei Wochen. Die Kannidos-Reihe basiert auf Der Beste Staat. Darin könnt ihr schon jetzt mehr über die Gute Ordnung erfahren - und über Kassandra.
Wenn euch meine Geschichten gefallen, empfehlt sie weiter, hinterlasst Lob oder Kritik in der Kommentarspalte, oder unterstützt mich via patreon, flattr oder paypal.
Kommentar veröffentlichen