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Kannidos Teil 1: Mittäter

Kannidos grinste freundlich. Dümmlich. So erwartete man es von einem treuen Bürger. Von einem Untertanen. Gottvertrauen in den Staat. Wenn er nichts zu befürchten hatte, hatte er ja nichts zu befürchten.
Der Staat wird die Seinen erkennen.
„Da hing ich noch den Idealen eines jungen Mannes nach. Und alten Freundschaften“, antwortete er.
„Und wie stehen Sie heute dazu?“
„Ich weiß nicht einmal mehr, warum ich mich dagegen gewehrt habe. Die … Gesellschaftlichkeit unseres Wirtschaftens, unseres Zusammenlebens. Der Gemeinsinn, den wir heute haben. Dafür habe ich ja selbst lange gekämpft.“
Die Lüge fiel ihm leicht, denn es war die Wahrheit. Erst als andere sie mit aller Konsequenz und aller Gewalt durchzusetzen begannen, war er vor seinen eigenen Idealen zurückgeschreckt. Kassandra hatte ihn schon zuvor vergebens gewarnt: Den Einzelnen der Gesellschaft unterzuordnen, bedeutete seinen Tod.
Er ahnte, dass seine Antwort nicht ausreichte: „Aber mittlerweile bin ich froh, dass getan wurde, was nötig war, um diesen Traum zu verwirklichen. Dass andere mehr Weitblick hatten als ich.“
„Und Kassandra?“, stach der Beamte in sein Herz, als könne er seine Gedanken lesen. Kannidos beruhigte sich schnell: Für einen Staat, der alles wusste, war es eine naheliegende Frage. „Sind Sie froh, dass das auch für sie Geltung finden musste?“
„Nein, natürlich nicht. Auch wenn ich rückblickend immer häufiger feststelle, dass auch sie einen schädlichen Einfluss auf mich hatte. Nicht, dass ich ihr einen Vorwurf mache, das liegt ja im Wesen der Magier. Deswegen war die Gefahr ja auch zu groß, um … um sie in unserer Gesellschaft zu belassen. Mein persönlicher Schmerz verblasst dagegen.“
Er simulierte jemanden, der sich ein Verbrechen rechtfertigen musste. Erst die innere Haltung eines Täters zu zeigen, machte ihn wirklich zu einem Teil dieser Gesellschaft. In Wahrheit war die einzige traurige Notwendigkeit, die er sich zu rechtfertigen hatte, dass er ihr Ansehen beschmutzte.
„Können Sie mir ein Beispiel geben für diesen schädlichen Einfluss?“
„Es war dieser stete Antagonismus.“ Er dachte einen Moment nach. „An eine Geschichte erinnere ich mich noch sehr eindrücklich: Als der heutige Pressesprecher des Präsidialamtes noch … er war für eine seiner Vortragsreihen auch an unserer Uni. Unsere Hochschulgruppe wollte damals mit ihm diskutieren, seine Argumente auf die Probe stellen. Aber Kassandra hat uns aufgestachelt, die Veranstaltung lieber zu stören oder ihr ganz fernzubleiben. Sie hat uns so ein … 'Wir gegen den Rest der Welt'-Gefühl gegeben.“
„Hat sie sich damit durchgesetzt?“
„Teilweise. Ich bin ihr damals gefolgt. Zu meiner Schande.“ Es war das einzige, was er je getan hatte, worauf er noch heute wirklich stolz war. „Andere waren offen für die Diskussion und sind vermutlich deswegen auch früher Teil der Guten Ordnung geworden. Wir hatten damals sogar … er war damals Physikstudent, heute in der Opposition … mir ist sein Name entfallen.“
„Ich weiß, wen Sie meinen. Aber das Ganze scheint Sie ja immernoch sehr mitzunehmen.“
„Ja. Ich denke noch oft darüber nach, welchen Einfluss sie auf mich hatte. Wie sie diesen Einfluss überhaupt bekommen konnte.“
Der Beamte nickte: „Ja, eine magische Manipulation wirkt noch lange nach. Die Opfer hängen noch lange an ...“, er hielt sich davon ab, abzuschweifen, „Aber das ist auch alles, was ich von Ihnen brauche, um mir ein Bild zu machen.“
„Gut. Wenn ich Ihnen noch anderweitig helfen kann, komme ich natürlich gerne noch einmal vorbei.“
„Ach“, sagte der Beamte freundlich, während er sich erhob, „Wir werten das zwar alles nochmal im Detail aus, aber ich denke, da wird es keine Probleme geben.“ Sie gaben einander die Hand. Kannidos ging zur Tür, der Beamte begleitete ihn noch hinaus in den Flur.
„Gibt es eigentlich viele solcher Fälle?“, fragte Kannidos, „Ich überlege, ob ich meine Erfahrungen damit literarisch verarbeite. Vielleicht darüber, wie man sich davon löst. Etwas Optimistisches.“ Er wusste, dass solche Nachgespräche fast genauso wichtig waren wie die eigentliche Befragung.
„Ja. Ja, da gibt es viele. Aber auch viel Scham und enorme langfristige Belastungen, über die die meisten Leute nur ungern sprechen. Denen würde etwas Optimistisches sicher helfen. Etwas Aufbauendes. Sowas könnten wir gut gebrauchen.“

Als er aus dem Sitz der Publikationsaufsicht trat, fand er sich in der beständig vorbeifließenden Menge der Mittäter wieder. Er war einer von ihnen geworden.

Die nächste Geschichte erscheint in zwei Wochen. Die Kannidos-Reihe basiert auf Der Beste Staat. Darin könnt ihr schon jetzt mehr über die Gute Ordnung erfahren - und über Kassandra.
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