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Gut Ding will Weile haben: Eine Rezension zu Kingdom Come

Spoiler-Alert und Disclaimer: Um Kingdom Come Deliverance angemessen einschätzen zu können, kommt man nicht umhin, Teile der Handlung vorwegzugreifen. Ich habe das Spiel im Juni 2018 durchgespielt und danach diesen Text geschrieben. Zwischendurch veröffentlichte Content-Patches und DLCs bleiben also unberücksichtigt.

Kingdom Come Deliverance hat den Mut, sich Zeit zu nehmen. Das macht auch die großen Momente der Inszenierung aus. Als Henry, die Hauptfigur, in sein zerstörtes Heimatdorf Skalitz zurückkehrt, um seine Eltern zu beerdigen, setzt uns das Spiel nicht einfach eine traurige Cutscene vor, in der Henry Abschied nimmt: Die gibt es natürlich auch. Es lässt uns dann aber damit allein, im strömenden Regen, in dem abgebrannten, mit den Leichen unserer Nachbarn übersäten Dorf einen Spaten zu suchen. Ein Grab unter dem Lieblingsbaum des Vaters auszuheben. Und dann mit Henry am Versuch zu verzweifeln, die Leichen der Eltern dorthin zu schaffen. Diese Länge ist bedrückend und eindrucksvoll, wenn man sich emotional auf sie einlässt.
Kingdom Come Deliverance hat auch den Mut, sich Zeit zu nehmen für Trivialitäten. Eine der ersten Quests nach dem Tutorial ist ein Wachgang durch eine Stadt unter Anleitung eines erfahrenen Kollegen. Wir schlichten einen Streit zwischen einer Bettlerin, die aus Skalitz geflohen ist und einem Schmiedemeister, der sie nicht vor seinem Geschäft rumlungern lassen will. Wir suchen eine Wache, die ihren Posten verlassen hat, um zu saufen. Weisen sie zurecht – um uns dann selbst hinzusetzen und lieber Würfel zu spielen als den Rundgang fortzusetzen. Das hat Witz. Die Lebenswelt unserer Figur – nicht das Mittelalter – wird in diesen Momenten greifbar. Man kommt sich nicht als Held vor, sondern als jemand, der erst einmal froh ist, seine Schulden bezahlen und für ein bisschen Frieden in einer Stadt sorgen zu können.


Erfreulich und eine nette Abwechslung ist vor Allem die Unaufgeregtheit der Erzählung: Es geht nie darum, die Welt zu retten, nicht einmal das Heilige Römische Reich, sondern höchstens um ein paar böhmische Dörfer und ihre Einwohner. Gleichzeitig fühlen sich diese „Kleinigkeiten“ dadurch umso relevanter an: Das Heilige Römische Reich ist weit weg. Was interessiert uns, wer sein Herrscher ist? Wir müssen erst einmal Heilkräuter sammeln, um verletzten Geflüchteten zu helfen, erst einmal ein paar Hasen wildern, um die Bettler zu versorgen, erst einmal einen Überfall auf eine Pferdezucht aufklären, bei dem ein oder zwei Bauern ermordet wurden. Gerade wenn Kingdom Come Deliverance zu Kingdom Come Confidential wird, macht es durch sein Zurückschrecken vor Gewalt, durch seine Unaufgeregtheit großen Spaß. Denn auch Kämpfe wirft Kingdom Come - zumindest bis kurz vor Schluss - nicht einfach wie andere Spiele gewohnheitsmäßig ein, um mit ein bisschen Action zu unterhalten.

Auch bei den Kämpfen lässt sich Kingdom Come Deliverance Zeit und nimmt sich vor Allem selbst ernst: Wenn uns der Schwertkampftrainer am Anfang des Spiels sagt, dass man Schwertkampf üben sollte, am besten jeden Tag, dann ist es eine gute Idee, sich einen Spieltag lang hinzustellen und zu üben. Denn natürlich kann Henry, ein Schmiedesohn, der sein Dorf nie verlassen hat, kein Schwert halten. Woher auch? Also heißt es: Üben. Und das geht am besten, indem man sich mit einem Holzschwert vermöbeln lässt. Das soll am Anfang frustig sein, weil man - wie Henry - nichtmal weiß, warum man gerade auf die Schnauze bekommt: Umso besser fühlt es sich dann an, wenn man die Geduld investiert hat und endlich volles Pfund aufs Maul geben kann.

Pappaufsteller Mittelalter

Die Zeit ist das große Potential dieses Spiels. Das ist, wofür es so viel Lob und gute Wertungen erhalten hat: Das Spiel, das es sein könnte. Aber dummerweise nicht ist. Denn das Mittelalter geht trotz all der Zeit, die wir darin verbringen, trotz des viel vorgetragenen und oft wiederholten Anspruchs auf Authentizität, kaum in die Tiefe. Dabei gäbe es eine Menge zu erzählen: Wir befinden uns im 15. Jahrhundert, in einer sowohl rasant fortschreitenden als auch stagnierenden Feudalgesellschaft, in der weltanschauliche Konflikte bald Überhand nehmen und ganz konkret in Böhmen die Hussitenkriege auslösen werden. In denen brechen auch soziale und ökonomische Konflikte zwischen tschechischer Landbevölkerung und deutschsprachiger Oberschicht durch. Zehn Jahre nach der Handlung von Kingdom Come Deliverance dürften viele der Figuren, die man im Spiel trifft, in einen handfesten Bürgerkrieg involviert sein und aus Überzeugung oder Eigennutz zur einen oder anderen Seite gehören. Von den sozialen, wirtschaftlichen und weltanschaulichen Spannungen, von den tiefen Gräben in einer Gesellschaft, die ihrem endgültigen Bruch vorausgehen dürften, merkt man im Spiel: Wenig bis nichts.

Die Kritik am moralisch verkommenen Klerus, die sich im historischen Böhmen dieser Zeit großer Beliebtheit erfreut, kann man kaum nachvollziehen ob der hilfsbereiten und mitfühlenden Geistlichen und Mönche, denen man im Spiel begegnet, die auf Zuruf ausziehen, um kranke Dorfbewohner und verletzte Soldaten zu versorgen. Einen Priester trifft man zwar im Spiel, der dieser Kritik entspricht, säuft und mit Frauen schläft, aber nur als comic relief – und gleichzeitig als Vertreter der Thesen von Jan Hus, der genau solchen moralischen Verfall kritisiert. Ein aufmuckendes Bürgertum trifft man nur in Form von Wilderei-Anfragen: Der reiche Händler möchte eben auch gerne mal wie ein richtiger Adliger Hasenfleisch essen. Und selbst die Probleme zum Betteln verdammter Kriegsflüchtlinge erreichen ihren Höhepunkt in der Bitte eines Beamten, ihnen freie Stellen nach ihrer Begabung zuzuteilen. Dass das eine Entscheidung über Leben und Tod sein kann, zeigt uns das Spiel nicht. Niemand spricht uns danach darauf an, dass wir jetzt wohl zu „denen da oben“ gehören, die sie in dieser Lage verkommen lassen, ihnen nicht helfen, ihnen keine Arbeit geben.

Kinder fehlen übrigens gleich ganz. Was es mit Menschen macht, wenn Kinder genauso oft leben wie sterben, erfahren wir nicht. Für die meisten gesundheitlichen Probleme, die uns das Spiel vorsetzt, gibt es zum Glück irgendeine Kräuterrezeptur und hilfreiche Mönche. Dass unser Charakter nur Glück hat, nicht an Tetanus zu sterben, wenn er sich bei der Schwertkampfübung verletzt, wird uns ebenso verschwiegen wie Kunst und Kultur – von christlichen Fresken, von durch Mönchen vervielfältigten Sachbüchern und ein oder zwei Klostergesängen in einer Quest mal abgesehen. Einen Gedichtband gibt es, vielleicht noch einen zweiten, den ich nicht gefunden habe. Dass Tanz und Musik, Märchenerzähler und Theater fehlen, die im Mittelalter nicht hinter einer Samtschnur, sondern als Unterhaltung für, von und mit einfachen Leuten betrieben wurden, dass dieser wichtige Aspekt menschlicher Gesellschaft – noch dazu in einer, in der fast niemand lesen kann – auf Trinkkultur und Würfelspiel reduziert werden, mag auch keine lebendige Mittelalteratmosphäre erzeugen.

Gewiss, die Plattenrüstungen, die Schwerter, die Architektur, das wird schon alles seine Richtigkeit haben, historisch akkurat sein. Doch die lebendige und gleichzeitig stagnierende, durchs Christentum geeinte und widersprüchliche, von sozialen wie weltanschaulichen Konflikten geprägte Spätmittelaltergesellschaft mag uns Kingdom Come nicht zeigen. Was nicht so schlimm wäre, wenn es uns denn etwas anderes Spannendes zeigte und das Spiel nicht bei idyllischen Landschaften und authentisch gebauten Burgen bliebe, die man gegen ausländische Invasoren und Räuberbanden verteidigt. Oder wenn es darin ehrlich wäre und nicht das authentische Mittelalter für sich beanspruchte, sondern mit ein bisschen Selbstironie einen dieser “guten alten Mittelalterfilme” spielbar machte, irgendwo zwischen Robin Hood mit Kevin Costner und Ritter aus Leidenschaft.

Frauen zum Anfassen

Das enttäuschende Moment dieser Darstellung zeigt sich auch an der Rolle von Frauen. Frauen tauchen lediglich als Hilfscharaktere im doppelten Sinne auf: Entweder sie brauchen Hilfe, müssen als „Damsel in Distress“, so ein Quest-Titel, aus den Fängen böser Banditen befreit werden oder sie helfen selbstlos dem Protagonisten, indem sie bspw. Räuber für einen Moment von ihm ablenken, bevor heldenhafte Ritter auftauchen, um die Halunken dann auch in die Flucht zu schlagen. Aber selbst diese potentiell starke, mutige Figur und Begleiterin verkommt dann zur punktuellen und im Grunde überflüssigen Helferin, die den Protagonisten in einer Mühle aufpeppelt und ihren Onkel beschwatzt hat, dass er erstmal bleiben darf, um dann bis Spielende darauf zu warten, vom Spieler verführt zu werden (eine Quest, die ich ebendarum nicht weiter verfolgt habe): Eine eigene Agenda, eigene Ziele scheint sie nicht zu verfolgen. Die arbeitsscheuen Bauernjungs mit denen Henry schon in Skalitz befreundet war, träumen dagegen stets vom großen Geld und ziehen ihn fortlaufend in ihre halblegalen Machenschaften hinein.

Deutlicher wird das verschenkte Potential an der anderen prägnanten weiblichen Figur des Spiels - und dass es nur zwei gibt, ist ja auch schon ein Statement in sich. Eine Gräfin, die uns nach der Flucht aus Skalitz persönlich aufpeppelt und erstaunlich distanzlos ist gegenüber dem schmutzigen, blutverschmierten Schmiedesohn, uns aus ihrem Leben erzählt, sich um uns kümmert. Schnell kam mir da der Gedanke: Wer so bereitwillig anderen Leuten, noch dazu einem Schmiedejungen, der bis dahin sein Dorf nie verlassen hat, vermeintlich Privates anvertraut, will doch sicher nur mein leicht gewonnenes Vertrauen erschleichen. Am Ende will sie mich für ihre eigenen Zwecke einspannen, möglicherweise den Ehemann loswerden, der sie nicht zu lieben weiß. Ein paar Quests weiter stellt sich heraus: Nö. Sie will mir nur das Hemd ihres Vaters anziehen und dann von mir flachgelegt werden. Das war's. Soziale Konsequenzen für das in einer eng gebauten Mittelalterburg recht auffällige Treiben gibt es übrigens auch keine. Na ein Glück, dass uns zufälligerweise niemand erwischt hat, sonst müsste uns das Spiel noch mit der (widersprüchlichen) mittelalterlichen Sexualmoral konfrontieren. So bleibt es bei Sex mit Frauen, die ohne erkennbaren Grund auf uns stehen und Sex mit Frauen, die wir dafür bezahlt haben. Mehr Verwendung scheint Kingdom Come für Frauen einfach nicht zu finden. Immerhin gibt es einen Buff. Wer Sex hatte, ist dann ein “Alpha Male”, dem man das auch ansieht, der selbstbewusster und überzeugender wirkt. +2 auf Charisma.

Gegen Ende des Spiels öffnet die gleiche Gräfin dann auch noch den Banditen, die der Ehemann gerade zu töten ausgezogen ist, die Tore zur Burg, woraufhin diese von den Bösewichtern eingenommen wird und kostspielig zurückerobert werden muss. Natürlich können Frauen auch naiv sein. Aber wenn sie die siebenjährige Gefangenschaft ihres Ehemannes in dessen eigener Burg mitgemacht und sich an allerhand Höfen für dessen Freisetzung eingesetzt hat, dann zeugt, diese Frau so zu zeigen, auch von schlechter Charakterzeichnung: Als würde gerade so eine Person leichtfertig Fremde in der Burg willkommen heißen, die ihrem Mann zum Gefängnis und ihr zum persönlichen Unglück wurde. Das naive Frauchen ist hier nicht nur ein billiges Instrument, um die Handlung voranzubringen, jemand hat es darauf angelegt, gerade dieses üble Klischee einzusetzen.

Natürlich hatten Frauen im Mittelalter viel weniger Möglichkeiten, offen gesellschaftlich wirkmächtig zu werden. Das soll mir das Spiel auch bitte zeigen. Es soll mir aber bitte auch zeigen, welche Kämpfe und Konflikte damit einhergehen, Frauen von Macht und Einfluss auszuschließen. Natürlich müssen Frauen, um in so einer Position zufrieden zu sein, naive Dummchen sein. Aber das spricht eben eher dafür, dass sie nicht damit zufrieden waren und sie mit Gewalt in ihrer Position gehalten werden mussten – und auf andere Weise versuchten, Einfluss zu üben. Und sei es, indem sie einen dahergelaufenen, weltfremden Schmiedesohn verführen, sich seine Loyalität sichern und dafür sorgen, dass ihr Ehemann nicht von der nächsten Jagd zurückkehrt. Männer benutzen Henry das Spiel über völlig selbstverständlich für ihre eigenen, auch illegalen Zwecke. Frauen sollten das Gleiche wenigstens versuchen, statt nur als Objekte des Mitleids gerettet oder als Objekte der Bewunderung verführt zu werden. Es gab im Vorfeld einige Diskussionen zum Thema Diversity in diesem Spiel und das Problem zeigt sich hier am deutlichsten, weil es kein rein weltanschauliches ist, sondern auch der Handlung schadet, eine Menge Potential verschenkt, wenn man Frauen so sorgsam ausspart. Davon ein authentisches Mittelalter und dann eben auch authentische Frauen zu zeigen, ganz zu schweigen.

Die Hölle, das sind die anderen

Die Weigerung von Kingdom Come solche gesellschaftlichen Konflikte zu zeigen, ruiniert aber nicht nur die Charakterzeichnung von Frauen. Henry selbst, der viel mehr Grund hätte, naiv zu sein, als die Gräfin, der als böhmischer Schmiedesohn sein Dorf nie verlassen hat und entsprechend genauso viel von der Welt wissen sollte wie über den Schwertkampf, der sie höchstens aus übertriebenen und entstellten Erzählungen, aus den Schreckensgeschichten der Pfaffen und Märchenerzähler kennen und nicht wissen sollte, was davon Wahrheit und was Erfindung ist: Dieser Henry stellt sich dann aber doch als erstaunlich aufgeklärter Geselle heraus und zweifelt bspw. in einer Quest sofort an, dass es Hexen gibt. Statt als ernst gemeinten Aberglauben, über den man Menschen zu verbrennen bereit ist, präsentiert uns das Spiel die Hexenverfolgung als vernünftige Gefahrenabwehrmaßnahme. Der Priester behauptet nicht etwa, dass Hexen wirklich existieren und des Todes sind, wie es in seiner Bibel steht, sondern dass es bloß nicht wünschenswert sei, wenn Laien mit gefährlichen Kräutern hantieren und Henry das bitte unterbinden möge. 

Später tadelt er uns, dass wir in solches Hexenwerk verstrickte, auf Kräutern trippende Frauen mit tödlicher Gewalt gegen Holzfäller verteidigten: Dass er uns wegen Mordes wegsperren oder wenigstens anklagen lässt? Von wegen. Wir sollen nur ein bisschen für die guten Christen beten, die es doch gut meinten und damit ist die Quest vorbei. Weitere Konsequenzen gibt es nicht. Die Holzfäller haben für ihren festen Glauben an Hexen also mit dem Leben bezahlt, während dem Priester, der ihnen diesen vermutlich eingeredet hat und Henry, der nie sein Dorf verlassen hat, natürlich klar ist, dass es Hexen nicht gibt. Mit den Kräutern haben die “Hexen” übrigens nur angefangen, nicht weil sie überzeugte Satanisten seien, sondern um sich über den Verlust der von kumanischen Angreifern zu Tode gebrachten Familienangehörigen hinwegzutrösten. Einen ernstzunehmenden Racheplan, wie Henry ihn hat, entwickeln sie nicht. Aber auch hier liegt die Ursache des Unglücks wieder außerhalb der gezeigten Gesellschaft.

Mit Ketzern haben wir einen Dialog lang Umgang, in dem wir sie davon überzeugen können, vor der Inquisition zu fliehen – warum die verfolgt werden, warum die andere Sachen glauben, welche das sind und warum wir ihnen helfen sollten, obwohl Henry beigebracht worden sein dürfte, dass solche Leute ganz schön gefährlich sind und ihm dadurch wohl das Himmelreich verschlossen bleiben dürfte: Keine Ahnung. Verfolgt werden die aber natürlich von einem kirchlichen Fanatiker, der nicht in den böhmischen Dörfern zuhause ist, sondern von außen kommt. Dabei hätte es die sich aufdrängende Chance gegeben, Henry mit seinen eigenen Vorurteilen, religiösen Überzeugungen und deren Konsequenzen zu konfrontieren. Stattdessen ist Henry hier dem Spieler der Gegenwart geistig näher und hat ein augenzwinkerndes Verhältnis zum Christentum und einer wörtlichen Interpretation der Bibel. Damit sollte er in so einer Gesellschaft aber alleine dastehen. Denn der Glaube war den Menschen dieser Zeit ernst genug, um aus Angst vor dem Höllenfeuer das letzte Hab und Gut zu verkaufen oder sich zum Kreuzzug zu verpflichten, um sich von den eigenen Sünden freizukaufen. In so einer Gesellschaft ergäben dann auch die Hussitenkriege Sinn. In der von Kingdom Come Deliverance nicht.

Henry erfährt aber auch einen rasanten gesellschaftlichen Aufstieg, der in einer starren Mittelaltergesellschaft wohl kaum möglich gewesen wäre, zumal ihm die Fähigkeiten dazu fehlen: Im Gegensatz zu anderen hat er nicht seine gesamte Kindheit und Jugend über gelernt, wie man kämpft, wie man liest und schreibt, wie man verwaltet, wie man rechnet, wie man überzeugend redet etc.. Im Nachhinein lässt sich die erstaunliche gesellschaftliche Durchlässigkeit der Feudalherrschaft damit erklären, dass er in WIrklichkeit der uneheliche Sohn eines Adligen ist, der diesen Aufstieg zulässt. Aber wenn das die Erklärung ist, müsste mir das Spiel zeigen, wie andere, die dieses Glück nicht haben, mit ihrem gesellschaftlichen Aufstieg scheitern, obwohl sie sich genauso redlich bemühen wie ich. Tut es aber nicht, weil es niemand sonst auch nur versucht. Am Ende wird aber auch das noch erklärt. Damit, dass Henrys Gefühl, nicht in die Rolle als Schmiedesohn zu passen, wohl in seinem Blut gelegen habe. Die vom unedlen Blute dagegen sind weitestgehend einfach zufrieden, wo sie sind.

Die Weigerung von Kingdom Come solche Ungerechtigkeiten zu zeigen und zu erkunden, mündet dann folgerichtig auch anderswo in öde Klischees: Die Adligen der böhmischen Dörfer sind grundsätzlich ehrbare Recken - sonst hätten ja möglicherweise die ihnen Untergebenen gar ein Problem damit, unterworfen zu sein. Der schlimmste von ihnen ist ein etwas fauler, aber keinesfalls bösartiger oder gar skrupelloser junger Mann, Hans Capon, der eben noch nicht bereit ist, selbst zu regieren. Kaum ist er in zwei, drei Schlachten verstrickt, interessiert er sich nicht mehr nur für Frauen, sondern auch für Kriegsführung. Ab diesem Moment gehen alle davon aus, dass aus ihm doch noch ein guter Regent wird. Warum auch immer.

Um die auf allseits akzeptierter Ständeordnung basierende Harmonie der böhmischen Volksgemeinschaft zu stören, muss stets erst von außen in sie eingegriffen werden - interne Konflikte scheint es nicht zu geben. Als vorläufiger Bösewicht muss ein schwuler Ungar herhalten, der sich natürlich keinem offenen, ehrbaren Kampf stellt, sondern manipulativ auftritt (um nicht zu sagen: cleverer ist als die anderen), Geld für seine Zwecke einsetzt und im Zweifel wegrennt, wenn er zu verlieren droht. Was ihm die ehrbaren, mannhaften Böhmen natürlich übel nehmen (weil er cleverer ist als sie). Dieses Erzählschema nervt nicht nur aus “politischen” Gründen, es langweilt vor Allem, weil es vorhersehbar ist und keine spannenden Probleme oder gar moralischen Konflikte birgt. So erzählt man nicht einmal eine richtige Geschichte, geschweige denn eine gute, zumal es in Sachen Haupthandlung bei einem unbefriedigendem Cliffhanger bleibt. Im kommunistischen Manifest heißt es: Die Geschichte aller Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen. Wenn man nun die Geschichte mittelalterlicher Gesellschaft künstlerisch verarbeitet – ja, Spiele sind selbstverständlich Kunst! – vermeintlich authentisch erzählen will, aber die Konflikte und Kämpfe innerhalb einer Gesellschaft sorgsam ausspart, bleibt wenig Erzählenswertes übrig.

In plottes Namen!

Gegen solche Kritik dürfte Kingdom Come Deliverance mit dem Verweis auf Authentizität,  den begrenzten Rahmen des Spiels und ausgiebiges Quellenstudium verteidigt werden. Auch wenn man anmerken könnte, dass die höfischen und geistlichen Quellen das gesellschaftliche Leben des Mittelalters etwa so “authentisch” darstellen dürften, wie die Traktate über das Duell am Hofe, die offensichtlich dem Kampfsystem zugrunde liegen, echten Mittelalterschlachten gerecht werden: Es ist müßig, darüber zu diskutieren, was und wen es zu diesem speziellen Zeitpunkt an gerade diesem Ort gab oder eben nicht. Deswegen nehmen wir dieses Argument mal ernst: Dann spielt Kingdom Come Deliverance zufällig in gerade der Handvoll böhmischer Dörfern, in denen es keine nennenswerte Kultur gab. Ausgerechnet dort, wo alle Frauen nur als naive Dummchen oder irrelevante Hilfscharaktere in Erscheinung traten. Zufällig in jener Ecke, in der Schwule nur als verschlagene Feiglinge vorkamen. In den böhmischen Dörfern, durch die keine arabischen oder afrikanischen Händler oder Pilger zogen. Aber zufällig und entgegen aller Wahrscheinlichkeit sehr wohl ein berühmter Militäringenieur aufkreuzte, gerade als man ihn für den plot brauchte, alle Wachen glänzende Rüstungen (im besten Sinne plot armour) trugen, alle dort regierenden Adligen im Grunde ehrbare, umgängliche Gesellen waren und all die sozialen Spannungen der Zeit nicht stattfanden. Sowie ein Schmiedesohn mal eben die ganze, erstaunlich durchlässige Mittelaltergesellschaft erkunden konnte, weil er zufällig ein Naturtalent in allen Belangen von Redekunst bis Schwertkampf ist. Aber dann ist es eben nicht das authentische Mittelalter, sondern eine Rosinenpickerei, um ein bestimmtes Bild von mittelalterlicher Gesellschaft zu zeigen. Dafür lässt sich das Spiel dann auch auf Unwahrscheinliches ein. Für die weniger genehmen Aspekte nicht.

Spätestens das muss sich der Entwickler dann eben sowohl politisch als auch in seiner vermeintlichen Mittelalterauthentizität vorwerfen lassen, und nicht zuletzt in Sachen Spielspaß, hätte das alles doch spannenden, glaubwürdigen, gar authentischen Stoff abgegeben, um die Mittelalterkulisse zu füllen. Denn ja: Kingdom Come könnte ein großartiges Spiel sein. Wäre jemand anderes für die Handlung verantwortlich gewesen. Das ist dem Spielprinzip für die nächsten Teile nur zu wünschen, ebenso wie besseres Quality Assessment. Dafür können sich die Entwickler auch gerne etwas mehr Zeit nehmen. Sonst werden ihre Kunden zwar Sasau und Ushitz kennen, aber ein tiefergehendes Verständnis für das konfliktträchtige (Spät)Mittelalter wird ihnen auch weiterhin ein böhmisches Dorf bleiben.

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