In der Diskussion um die Ukraine werden gerne zwei Ebenen nach Belieben vertauscht: die moralische und die sachliche. Aber es ist ausgerechnet jene Seite des Streits, die sich selbst Realpolitik und Sachlichkeit zuschreibt, die hier durcheinander gerät. Eine Fehlersuche.
Was ist normativ richtig im Ukraine-Krieg? Der Fall ist klar: Der russische Angriffskrieg gegen den ukrainischen Staat, die systematischen Kriegsverbrechen gegen die ukrainische Zivilbevölkerung und die imperialen Ambitionen Russlands, die kein ukrainisches Volk neben dem russischen akzeptieren wollen, sind durch nichts zu rechtfertigen. Das Beste wäre, wenn Russland seine Truppen abzieht. Auch die historischen Folgen dieses Krieges sprechen dagegen, einen ethnisch motivierten Aggressor mit der Verschiebung von Staatsgrenzen zu belohnen. Darin sind sich alle namhaften Kommentatoren einig – wenn man davon ausgeht, dass diese Erklärungen ehrlich gemeint sind, was ich wenigstens für die Zwecke dieses Textes unterstellen möchte.
An diesem Punkt wird aber ein verantwortungsethischer Einwand vorgetragen: Das normativ Richtige ist schlicht nicht durchsetzbar zu einem moralisch vertretbaren Preis. Russland wird seinen Krieg nicht einfach aufgeben. Um Menschenleben zu retten, sei es richtig, zu verhandeln. Was ich hier bereits anmerken will: Frieden und das Retten von Menschenleben hochzuhalten, das sind moralische Positionen und völlig berechtigte. Wer das als Argument in der Debatte um Verhandlungen und Waffenlieferungen verwendet - und damit mal implizit, aber oft genug auch explizit behauptet, wer es anders sieht, wolle Krieg und Tote sehen - kann sich danach nicht über angebliches “Moralisieren” beklagen.
Die Voraussetzung dafür, dass diese Position ihre moralische Überlegenheit behaupten kann, ist allerdings, dass ein Verhandlungsfrieden möglich wäre und dass er möglich wäre zu einem Preis, der nicht (mehr) Krieg und Tote fordert (als die Alternative). Das sind in der Tat keine moralischen Fragen, sondern Sachfragen. Entscheidend ist also nicht, dass die Ukraine jedes Recht zur Selbstverteidigung hat, sondern dass uns Russland in eine Situation gebracht hat, in der wir keine bessere Wahl haben, als uns auf einen Verhandlungsfrieden einzulassen. Die russische Position entzieht sich unserer Kontrolle und wird als gegeben angenommen. Sie mag verwerflich sein - das sagen auch jene, die so argumentieren - aber das ändert sie nicht.
Russische Sachlichkeit
Eine Verhandlungsposition kann man sich in etwa so illustrieren: Es gibt eine “Obergrenze” und eine Untergrenze dessen, was, in unserem Fall, Russland als Ergebnis dieses Krieges akzeptieren würde. Nur in diesem Rahmen würde es aufhören, Welle um Welle junger und alter Russen gegen eine zunehmend fähigere und besser ausgestattete ukrainische Armee in den Tod zu schicken. Nur innerhalb dieser Ober- und Untergrenze lässt sich der Krieg durch Verhandlungen beenden. Russlands Maximalforderung dürfte die Unterwerfung der Ukraine sein: ursprüngliches Ziel der Invasion war wenigstens die Installation einer moskautreuen Marionettenregierung in der Ukraine und die Angliederung von ostukrainischen Gebieten.
Russlands Untergrenze dürften territoriale Zugeständnisse sein, über deren Umfang sich informiert spekulieren lässt: Russland muss den Tod tausender russischer Soldaten entweder mit einer imperialen Ambition rechtfertigen, die sich nur durch umfangreiche Gebietsgewinne einlösen lässt. Auch die angebliche Selbstverteidigung gegen die NATO muss am Ende greifbare Erfolge vorweisen, so sprechen russische Propagandisten auch über Pufferzonen, die den Donbass außerhalb der Reichweite von Artillerie bringen würden. Eine Invasion der Ukraine nur um den Status vor dem Krieg wiederherzustellen, würde jedenfalls die Legitimationsgrundlage für Putins Regime in Frage stellen. Gerade diese internen Faktoren und Kostenabwägungen bestimmen oft Verhandlungspositionen.
Aus dieser Überlegung ergeben sich auch jene Ansätze, die einen gesichtswahrenden Ausweg für Putin fordern. Einen irgendwie akzeptablen Friedensschluss. Allerdings hat Russland mehrere dieser Auswege nicht genommen: Schon nach dem Kyiv-Debakel hätte die russische Propaganda die erfolgreiche Entmilitarisierung der Ukraine verkünden und seine “siegreichen” Truppen auf die Vorkriegslinien zurückführen können. Auch die formale Annexion nicht einmal mehr besetzter Gebiete spricht zusammen mit der Inflexibilität der russischen Verfassung in Gebietsfragen dafür, dass die in Russlands Augen unverhandelbaren Ansprüche umfangreicher sind als die bloße Wiederherstellung des Vorkriegsstatus. Der Punkt ist jedoch: Diese Mindestansprüche an einen Frieden sind nicht moralisch zu prüfen, sondern als Fakt hinzunehmen, um die unter dieser Bedingung moralisch richtige Entscheidung zu ermöglichen und einen Friedensschluss zu erreichen, der Menschenleben rettet.
Ukrainische Moral
Und hier hört die Argumentation regelmäßig auf. Die Minimalforderungen Russlands sollen erfüllt werden, dann haben wir Frieden und keine Kriegstoten mehr. Auffällig abwesend bleibt in dieser Überlegung die Ukraine selbst. Regelmäßig wird behauptet, der Westen sei Kriegspartei - obwohl es bisher nicht zu Kampfhandlungen zwischen Russland und der NATO gekommen ist und weder Russland noch die NATO das wollen. Dennoch wird argumentiert, als wäre der Westen nicht nur eine, sondern die Kriegspartei. Die NATO kann allerdings nicht darüber entscheiden, ob die ukrainische Armee morgen ihre Waffen niederlegt. Einigen müssen sich die Ukraine und Russland.
Trotzdem erhält die Ukraine regelmäßig nicht den Vorzug der “unmoralischen” Betrachtung ihrer als Fakt anzunehmenden Verhandlungsposition. Einerseits wird die ukrainische Position als “Verheizen” von Soldaten in einem sinnlosen Krieg moralisch in Zweifel gezogen. Führt man dagegen allerdings an, dass Russland systematische Kriegsverbrechen begeht, wird das nicht als analytisch wertvoll für die Erfolgsaussichten von Verhandlungen in die Argumentation einbezogen - sondern als moralisierend abgetan. Dabei spielt es eine entscheidende Rolle für die Erfolgsaussichten von Verhandlungen, was die Ukraine bereit ist, zu akzeptieren. Stattdessen wird die ukrainische Position moralisiert, die russische wie eine Naturgewalt versachlicht.
Was ist die Maximalforderung der ukrainischen Seite? Wohl der Abzug aller russischen Truppen von ukrainischem Staatsgebiet inklusive der Krim, eine neue, weniger imperialistische russische Regierung, Sicherheitsgarantien, Reparationszahlungen und Kriegsverbrecherprozesse. Über die Untergrenze lässt sich informiert spekulieren: Territoriale Zugeständnisse jenseits der Vorkriegslinien dürften für die Ukraine nach den Massakern von Butscha und Irpin, nach den Berichten über die Entführung, Umerziehung, Ermordung und Vergewaltigung ukrainischer Kinder, im Angesicht der imperialen Ambitionen Russlands und in Anbetracht der russisch-ukrainischen Geschichte, unvorstellbar sein: Für die Ukraine ist russische Hegemonie gleichbedeutend mit Völkermord.
Wer hier einwenden will, dass das ja alles ungerechtfertigt sei, der sei an die Regeln dieser Denksportübung erinnert: Wir nehmen diese Verhandlungsposition als Fakt hin. Wir prüfen sie nicht auf moralische oder sachliche Richtigkeit. Genau wie bei Russland. Alles andere wäre ja ein pro-russischer Doppelstandard, dessen sich in dieser stets ehrlich geführten Diskussion gewiss niemand schuldig machen möchte.
Eine Wiederherstellung des, nennen wir es, kriegsähnlichen Zustandes vor der Großinvasion - ein “Einfrieren” des Konfliktes, wie es immer wieder heißt - wäre für die Ukraine wohl ebensowenig akzeptabel wie für Russland: Sie müsste ernsthaft fürchten, dass Russland diesen Zustand erneut nur zur Vorbereitung des nächsten Krieges nutzen würde. Solange Staatsgebiet der Ukraine militärisch umstritten ist, werden auch NATO- und EU-Beitritt schwieriger, die durch ihre jeweiligen Beistandsverpflichtungen effektive Abschreckung gegen Russland bieten und den nächsten Krieg verhindern könnten. Geringere Formen von Sicherheitsgarantien sind dagegen bereits (und nicht nur) im Budapester Memorandum gescheitert.
Nach den Erfahrungen mit dem von Russland kurzzeitig aufgekündigten Getreideabkommen, den Angriffen auf Hilfs- und Fluchtkorridore bspw. für Mariupol und dem Beschuss eines Atomkraftwerkes, um nur einige Beispiele zu nennen, dürfte die russische Seite ohnehin jedwede Glaubwürdigkeit für Verhandlungen verspielt haben: Die Ukraine wird sich nicht auf Russlands Wort verlassen. Das wäre aber die Voraussetzung für einen Verhandlungsfrieden. Wer die imperiale Ideologie Russlands als wirkmächtigen Fakt akzeptiert, muss das auch beim ukrainischen Anspruch auf Selbstbehauptung tun, sonst verwandelt sich moralische Blindheit schnell in eine analytische. Die Friedenslösung liegt jedenfalls dort, wo sich diese beiden Sätze an Maximal- und Minimalforderungen für einen Friedensschluss überschneiden.
Das Problem und seine Lösungen
Hier ergibt sich ein Problem: Es gibt keine Schnittmenge zwischen der ukrainischen und der russischen Position. Russland muss schon aus innenpolitischen Gründen ukrainisches Land jenseits der vor dem 24. Februar 2022 besetzten Gebiete erobern - und die Ukraine wird das hier und heute nicht akzeptieren. Der Friedensschluss ist unter den gegebenen Bedingungen nicht möglich. Ihn zu fordern, rettet kein einziges Menschenleben und ist nicht mehr oder weniger irreal als der Wunsch nach einem sofortigen Abzug der russischen Invasionstruppen - nur weniger ambitioniert in seiner normativen Reichweite. Aber es gibt natürlich eine Möglichkeit, dieser Situation zu entkommen: nämlich die Grenzen des Akzeptablen zu verschieben. Diese Frage werfen auch BefürworterInnen von Verhandlungslösungen auf: Was wäre nötig, um Russland zu einem Abzug seiner Truppen zu bewegen? Wie viele Menschen müssten bei den dafür notwendigen Kampfhandlungen sterben? Bevor ich auf diese Frage eingehe, möchte ich darauf hinweisen, dass sie sich genauso für die Ukraine stellt:
Was notwendig wäre, damit die Ukraine hinnimmt, was sie als Völkermord begreift, ist monströs. Die Zahl der ukrainischen Soldaten, die sterben müssten; die Zerstörung von Infrastruktur und Städten, die nötig wäre; das zivile Leid, das mit russischen Erfolgen einherginge, die dafür sorgen könnten, dass die Regierung in Kyiv und die ukrainische Bevölkerung akzeptieren, was sie als Völkermord und Vorbereitung auf den nächsten Krieg wahrnehmen, wäre unvorstellbar. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass Russland aufhören würde, systematisch Kriegsverbrechen zu begehen, während es Gebiete besetzt, Partisanen und die ukrainische Armee bekämpft. Es gibt auch keinen Grund, das im Fall eines Friedensschlusses oder eines Waffenstillstandes anzunehmen.
Es ist auffällig, dass viele derjenigen, die Verhandlungen fordern, sich auch gegen Waffenlieferungen an die Ukraine wenden und dies oft ihre einzige, ohne Putins Zustimmung umsetzbare Forderung ist. Sie legen damit offen, wer hier auf wen zubewegt werden soll. Manche sprachen gar offen davon, man müsse die Ukraine an den Verhandlungstisch zwingen. Hier allerdings verliert der Ansatz nicht nur seine sachliche Berechtigung, sondern auch seine vorgebliche, in warme Worte vom Frieden gehüllte moralische Überlegenheit: Was man der Ukraine antun müsste, um sie zum Einlenken auf russische Forderungen zu bewegen, hat nichts mit Frieden und der Rettung von Menschenleben zu tun. Für diesen Frieden müssten seine lautesten Befürworter über Leichen gehen. Und schließlich gibt es keine Garantie, dass Russland seine Ansprüche im Falle versiegender westlicher Unterstützung und eigener militärischer Erfolge, nicht wieder höher schraubt.
Wir erinnern uns: Die Voraussetzung dafür, dass diese Position ihre moralische Überlegenheit behaupten kann, ist, dass ein Verhandlungsfrieden möglich wäre und dass er möglich wäre zu einem Preis, der nicht mehr Krieg und Tote fordert als die Alternative. Aber die Ukrainer dazu zu zwingen, russische Gebietsansprüche zu akzeptieren, würde unerträgliches Leid über sie bringen. Die Alternative ist nach wie vor, den Ukrainern zu geben, was nötig ist, um die russischen Truppen aus der Ukraine zu verdrängen. Erst das kann die russische Verhandlungsposition verändern:
Das wird Tote und Krieg bedeuten. Dass es dennoch möglich ist, haben die ukrainischen Streitkräfte bereits gezeigt. Die russische statt der ukrainischen Position zu verschieben, wird weniger ukrainische Tote bedeuten, insbesondere in der Zivilbevölkerung, und es wird ein schnelleres Ende des Krieges bedeuten, als eine auch nur teilweise besetzte Ukraine. Denn die Ukrainer haben in ihrer jüngeren Geschichte deutlich gemacht, dass sie entschlossen sind, sich einer russischen Hegemonie auch gewaltsam zu widersetzen. Wer Ukrainer entweder als Partisanen in besetzten Gebieten oder als Streitkräfte ohne Panzer, Flugabwehr oder Helme weiterkämpfen lassen möchte - und weiterkämpfen werden sie, das wird nicht in Berlin und auch nicht an der Uni Halle-Wittenberg entschieden - der sollte nicht anderen vorwerfen, ukrainische Soldaten “verheizen” zu wollen und menschliches Leben gering zu schätzen.
Die demokratische Öffentlichkeit in Deutschland steht nicht vor der Wahl, ob dieser Krieg stattfindet. Das hat Russland bereits entschieden: er findet statt. Wir stehen auch nicht vor der Wahl, ob die Ukrainer kämpfen werden. Das haben sie bereits entschieden: sie wehren sich. Wir stehen allein vor der Wahl, ob wir einen Teil des immensen Reichtums unserer Gesellschaft einsetzen, um ihnen zu helfen - oder nicht. Das ist von sachlichen Erwägungen, aber auch von Werturteilen abhängig. Beides spricht dafür, sie zu unterstützen.
Das letzte Aufgebot
Das letzte verzweifelte Argument hiergegen ist die russische Eskalationsdominanz. Seine Atomwaffen. Es sei unmöglich, Russland zu besiegen und damit auch seine Mindestanforderungen für einen Friedensschluss zugunsten der ukrainischen Forderungen zu verschieben. Daher stünde nur die andere Option offen. Dieser deutsche Glaube an den russischen Endsieg ist bemerkenswert kontrafaktisch und ahistorisch. Es wäre nicht das erste Mal, dass eine Atommacht in ihren imperialen Ambitionen militärisch scheitert: So wie die Sowjetunion in Afghanistan. Tatsachen rechtfertigen die Annahme, dass die NATO eine nukleare Eskalation in der Ukraine zum Anlass für eine Intervention nehmen würde - und dies Russland deutlich angedroht hat. Russland ist auf eine Konfrontation mit der NATO nicht vorbereitet und macht keine Anstalten, sich darauf vorzubereiten. Ein Atomkrieg dagegen würde auch zur Vernichtung Russlands führen. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass die militärische Führung in Moskau suizidal ist.
Was die konventionelle Eskalationsdominanz angeht, ist der bisherige Kriegsverlauf aufschlussreich: Zwar gibt es kaum verlässliche Verlustzahlen, was Personal und Ausrüstung angeht. Dennoch hat die Ukraine bereits den größeren Teil des seit dem 24. Februar 2022 von Russland besetzten Gebietes befreit. Russland musste hunderte Kilometer lange Fronten in Richtung Kyiv und Kharkiv und damit tausende Quadratkilometer umfassende Gebiete komplett aufgeben. Die verbleibenden russischen Offensiven erweisen sich extrem verlustreich und bemessen ihren Erfolg darin, wie oft Bakhmut bereits erobert wurde. Trotzdem werden der grandiosen russischen Eskalationsdominanz, die seit März 2022 keine vergleichbaren militärischen Fortschritte vorweisen kann, rhetorisch verzwergte “regionale” und “einzelne” Erfolge der Ukraine gegenübergestellt. Die Diskrepanz zwischen der Realität und der Behauptung russischer Überlegenheit ist derart groß, dass es schwer fällt, dieses Argument überhaupt ernst zu nehmen - oder nachzuvollziehen, warum es in der deutschen Öffentlichkeit nicht von den einschlägigen Podien gelacht wird.
Wer sich aber auf diesen sachlichen Blick gar nicht einlassen und lieber moralisch einwandfreie, aber utopische Forderungen stellen möchte, wird seine Ansprüche gegen Russland richten. Oder müsste sich die Frage gefallen lassen, warum Frieden zum Argument gegen den Verteidiger, nicht gegen den Aggressor wird. Einen sachlichen Grund gibt es dafür nicht. Normativ aber einige dagegen.
Kommentar veröffentlichen