"Die Judenhasser lassen die Maske fallen", so
betitelte Publikative.org einen Artikel über die derzeit überall in Deutschland
stattfindenden (und in schöner Regelmäßigkeit eskalierenden) "Free
Palestine"-Demos. Lange Zeit hätte ich mich selbst gegen eine solche
Aussage gewehrt, hätte eingeworfen, dass der Wunsch nach Frieden, um den es diesen Menschen doch sicher geht, nicht
gleichzusetzen sei mit dem Hass auf Jüdinnen und Juden. Aber man kommt nicht
umhin, was derzeit in Deutschland passiert, ist entlarvend.
"Jude, Jude, feiges Schwein, komm heraus und kämpf'
allein!" war bislang auf zahlreichen dieser selbsternannten Friedensdemos
zu hören. Ein Satz, bei dem mensch mit Recht zurückschreckt. Aber den
Antisemitismus hinter diesen Veranstaltungen erst zu erkennen, wenn diese
Parolen gebrüllt werden und sich die Meute, wie in Essen, einen Weg zur
örtlichen Synagoge bahnen will, ist zu spät.
Für viele Leute scheinen selbst diese Ausfälle überhaupt kein Problem zu sein. Das seien eben Ausnahmen oder der Protest sei im Kern richtig und nur diese Angriffe eben nicht. Nur weil man Israel als "Terrorstaat"
bezeichnet und Schilder wie "Angeblich früher Opfer, heute selber Täter" hochhalte, müsse man ja nicht gleich Synagogen angreifen oder
Antisemit sein, so geht die Argumentation. Mensch kommt nicht umhin, diesen
Leuten die Frage zu stellen: Wer ist dann eigentlich Antisemit?
Antisemiten, das sind immer die anderen. Bei konkreter Nachfrage
ist, verständlicher Weise, jeder bemüht, Antisemitismus von sich zu weisen.
Aber nicht nur das, auch andere Menschen werden instinktiv vor diesem Vorwurf
in Schutz genommen, ist doch mit diesem Wort das schrecklichste Verbrechen der
Menschheitsgeschichte verbunden. Zur Veranschaulichung: Arnulf Baring schwafelt in einer Talkshow über die Frage, ob die Deutschen Täter im 2. Weltkrieg gewesen seien, er spricht von den Juden als "schuldigen Opfern" und der Holocaust taucht bei ihm nach einer Stunde Gerede nur auf, um auf die Traumatisierungen der armen SS-Wärter hinzuweisen (kein Witz, leider). Dann nenne ich
diesen Mann natürlich einen Antisemiten. Aber da schrecken viele auf, so krass könne
man das nicht sagen. Also er hat sich vielleicht unpassend geäußert, aber
gleich Antisemit? Dann ist von "Antisemitismuskeule" die Rede. Die Stigmatisierung
von rechtem Gedankengut, die sonst oft gute Dienste geleistet hat, die
Mobilisierung von Nazis in Deutschland zu behindern, hat dazu geführt, dass es
gesellschaftlich schwer akzeptabel ist, Antisemiten auch als solche zu
benennen. Jeder ist bemüht, dieses Phänomen auf "die Rechtsextremen"
abzuschieben. Arnulf Baring wehrte sich in einer anderen Talkshow gegen den Vorwurf des
Antisemitismus sinngemäß mit den Worten, das sei Unsinn, er sei schließlich
kein Rechtsextremer. Ein in der Gedankenwelt dieses Mannes vermutlich
schlüssiges Argument. (Zahlreiche Kommentatoren und Zeitungen schieben zum Beispiel den Antisemitismus, der in den letzten Tagen deutlich geworden ist, einfach auf eingewanderte Muslime).
Aber Antisemitismus ist in Deutschland quer durch alle
Bildungschichten und politischen Spektren vorhanden. Von Rechts durch die
Mitte bis tief ins linke Spektrum hinein. Die antisemitischen Nachrichten an
die israelische Botschaft in Berlin und den Zentralrat der Juden kommen zu
einem überproportional hohen Anteil von Akademikern, deren Nachrichten darauf schließen lassen, dass sie gutes Wissen über die
Geschehnisse in der Zeit des Nationalsozialismus besitzen und sich selbst in
der politischen Mitte verordnen.
Rassismus muss mensch eben nicht nur bei dem Mob in Hellersdorf und Rostock-Lichtenhagen suchen, von welchem sich der/die gute Deutsche gerne hochnäsig abhebt und auch nicht nur bei den Glatzen mit Springerstiefeln, deren martialisches Gehabe den Akademikern*innen ohnehin suspekt ist (oder doch nicht?). Rassismus kann nicht so leicht in eine bestimmte gesellschaftliche Ecke gedrängt werden, auch wenn das immer mal wieder versucht wird. Und nirgendwo sonst wird das so deutlich wie beim Antisemitismus. Es ist eben der gut situierte Zahnarzt aus Lüneburg, der an den
Zentralrat der Juden schreibt: "Israel ist die größte Bedrohung für den
Weltfrieden. Lieber 7 Millionen Tote (gemeint sind die Einwohner*innen Israels), als 7
Milliarden." Wie kommt so ein Mensch dazu, so etwas an den Zentralrat der Juden in Deutschland zu schreiben?
Dazu ist wichtig zu verstehen, was Antisemitismus von anderen
Rassismen unterscheidet. Antisemitismus basiert nicht, wie andere Rassismen, auf einer Übergeneralisierung, es
wird also nicht von einem (vermeintlichen) Merkmal einer Person auf eine ganze Gruppe
geschlossen. Antisemitismus ist eine Weltsicht. An allem sind die Juden Schuld,
überall steht eine finstere Macht dahinter, die Juden werden sich vorgestellt
als das ultimativ andere, das Entwurzelte ohne eigenes Land (klingelt da was beim Thema Nahost-Debatte?), was dem Verwurzelten alles verdirbt.
Deswegen war es nicht zufällig der Antisemitismus, der den Nazis als
Weltanschauung und Projektion in ihrem angeblichen Kampf um Reinheit und
völkische Selbstbestimmung diente. Die Alliierten waren in dieser Sicht nur die Handlanger, die Waffen des internationalen Judentums und ihrer Banken, die
Deutschen das einzig verwurzelte Volk, was gegen diese aufbegehren konnte.
Auch manche Globalisierungskritiker überhöhen gerne mal romantisch das Leben in "naturnahen Stämmen", denen eine Immobilität (Verwurzelung) im Gegensatz zur mobilen (entwurzelten) globalisierten Gesellschaft unterstellt wird. In letzterer verkommen nun die angeblich überlegenen Werte und Normen der naturnahen Völker. Es ist aber nichts als Rassismus, sich diese Menschen einfach als zurückgebliebene und abgesonderte Gruppe ohne Entwicklung und Geschichte vorzustellen, selbst wenn das in der eigenen Weltsicht irgendwie etwas Gutes ist. Dieses Bild der abgesonderten, immobilen Stammesgemeinschaften als Studienobjekt für "Traditionen" ist nicht ohne Grund in der ernsthaften Ethnologie verpöhnt.
Was hat das mit Antisemitismus zu tun? Antisemitismus ist eine Weltsicht, in der sich die
Widersprüche der Moderne und des Kapitalismus auflösen, weil man einen
Schuldigen, eine Projektionsfläche gefunden hat: Es ist das Entwurzelte, die überall wirkende aber nie greifbare Kraft ohne Staatszugehörigkeit, die alles auf der Welt verdirbt. Mensch selber muss nichts an seinen Einstellungen oder seinem Verhalten ändern, muss die eigene Sozialisierung nicht hinterfragen. Die internationalen (entwurzelten) "Finanzeliten" sind halt Schuld, das der Kapitalismus so böse ist.
Vor diesem Hintergrund, Antisemitismus als Welterklärung und
Projektion, kann man nun die hierzulande geführte Nahost-Debatte verfolgen.
Da stellt sich zunächst die Frage: Wo waren die Friedensdemos, die jetzt als "Free Gaza" und "Free-Palestine"-Demos aus dem Boden schießen, als der Syrienkrieg ausbrach?
Wo waren die Leute, die "Kindermörder Assad" geschrien haben und zum
Boykott syrischer Waren aufriefen? Wo waren die
Holocaustvergleiche, mit denen Israel so oft belegt wird, als Assads Armee
Giftgas einsetzte? Und wo war eigentlich Jürgen Todenhöfer?
Jede*r
Tote ist eine*r zu viel und Aufrechnungen von Todeszahlen sagen allein noch
nichts über den Konflikt aus, aber das Verhältnis ist vielleicht interessant:
In den letzten 3 Jahren Syrienkrieg sind etwa zehn Mal so viele Menschen gestorben wie im gesamten Konflikt zwischen Israel und Palästina seit 1948 (und
zwar auf beiden Seiten zusammen). Zehn Mal und es sterben täglich mehr Menschen in Syrien. Das heißt nicht, dass das die
Toten in Israel und Palästina weniger tragisch sind, aber es berechtigt die Frage, warum zum Beispiel
ein Jürgen Todenhöfer pathetisch berichtet, die Menschen in Gaza seien das am
stärksten geknechtete Volk der Welt. Und es berechtigt die Frage, warum die sozialen Netzwerke, die Presse und die Demos auf den Straßen zum Syrienkrieg kaum ein Wort verlieren.
Dieser Doppelstandard fällt ins Auge und er lässt sich nur
durch einen im gesellschaftlichen Diskurs tief verankerten Antisemitismus
erklären. Aber wie kann man sich das vorstellen? Sitzen da Judenhasser vor den
Bildschirmen und warten darauf, dass sich Israel gegen die Hamas verteidigt, um
ihren Antisemitismus ausleben zu können? Man könnte zwar fast den Eindruck
haben (Der Spiegel postete kürzlich -nach der von Israel akzeptierten und von der Hamas abgelehnten Waffenruhe- ein Bild einer israelischen Raketenabwehranlage (!) mit der Überschrift: "Nach kurzer Waffenruhe: Israel greift wieder Ziele im Gazastreifen an"). Aber die Spielweise des Antisemitismus ist noch
komplexer. Denn an der Grenze zwischen Israel und Palästina wird auch die Grenze
zwischen der ersten und der dritten Welt deutlich, durch einen hohen Zaun
getrennt, die ganze Ungerechtigkeit der globalisierten Welt scheint hier für
viele Leute greifbar zu werden, die mal irgendwo gehört haben, dass etwas am Kapitalismus doof ist.
Sicher, es gäbe bessere Orte, diese Diskrepanz sichtbar zu
machen. Schließlich ist die Hamas maßgeblich daran beteiligt, dass es der palästinensischen
Bevölkerung so schlecht geht, weil alles Geld in den Krieg gegen die Juden
gepumpt wird und moderne Technik ohnehin suspekt ist.
Die EU-Südgrenze wäre so ein Ort. Sie würde sich viel eher
anbieten, weil die Sache eigentlich viel eindeutiger scheint: Die Flüchtlinge,
die über das Mittelmeer nach Europa kommen, schießen nämlich keine Raketen und haben
keine Grundsatzcharta in der steht, man wolle alle Europäer vernichten. Wem der Vergleich unangemessen erscheint,
wieder zur Einordnung: An der EU-Außengrenze und in den bezüglich der
"Flüchtlingsabwehr" kooperierenden nordafrikanischen Staaten sind seit dem Jahr 2000, also in den letzten 14 Jahren, über 23.000 Flüchtlinge gestorben, mehr Menschen als im gesamten
Konflikt zwischen Israel und Palästina seit 1948 durch Krieg und Terror zusammen.
Warum also schaut die deutsche Öffentlichkeit, wenn sie schon
Projektionsflächen für ihre Globalisierungskritik sucht, nach Israel? Weil der
Konflikt Israel-Palästina sich dazu eignet, die eigene Verantwortung
wegzuschieben, das Böse am Kapitalismus und der Globalisierung bei den anderen
zu suchen. Die Logik des Antisemitismus (und damit übrigens eng verknüpft des Antiamerikanismus), also die Logik von "Verwurzelung = Gut" auf der einen und "Entwurzelung = Böse" auf der anderen Seite, ist bekannt. Aus der gleichen Logik heraus scheint es nun wohl schlüssig, von
den Juden zu verlangen, sich halt irgendwo anders auf der Welt einen
Platz zu suchen. Denn in der Weltsicht der angeblichen Fürsprecher
Palästinas sind die Einwohner von Gaza eben auch nur verwurzelte
"Eseltreiber", die mit ihrer überlegenen Moral von der technisierten
Welt bekämpft werden. (Jürgen Todenhöfer: »Mit Panzern gegen die Eselswagen der Tunnelbauer! Es ist absurd«)
Die traditionsverhafteten, verwurzelten Palästinenser
auf der einen, die technisierten Eindringlinge ohne eigenes Vaterland,
die Juden, auf der anderen Seite, so geht die Legende. Gaza ist in diesem Bild ein kollektiver Widerstandskämpfer, gegen die globalisierte westliche Welt und ihren übermächtigen Militärapparat, verkörpert durch die Juden. Die Fürsprecher Israels machen sich also in den Augen ihrer Gegner zu Apologeten der gesamten Ungerechtigkeit auf der Welt. Denn wenn es heißt: "Panzer gegen Steinewerfer", dann kann doch nur ein Unmensch auf der Seite der Panzerfahrer stehen. Darum geht es, nicht um tatsächliches Mitleid mit den Menschen. Deswegen interessieren sich die "Israelkritiker" auch immer erst auf Nachfrage für das Leid, welches die Hamas den Menschen in Gaza antut.
Aber mit diesem Weltbild kann eben auch der/die erzkonservative CDU-Wähler*in ein wenig in Revolutionsromantik
schwelgen, wenn sie/er die Bilder von Demonstranten sieht, die Steine auf
Panzer schmeißen. Leute, die Hans-Peter Friedrich mitgewählt haben, aber Netanjahu für seinen harten Kurs kritisieren? Mit Antisemitismus als Weltbild lösen sich diese Widersprüche auf. Und am nächsten Morgen dann schön zum Public Viewing gehen, in Kinderarbeit produzierte Deutschlandfahnen schwenken und
Bratwurst aus Massentierhaltung essen. Denn das Böse am Kapitalismus, wenn es das überhaupt gibt, das sind schließlich nicht wir. Das sind die Juden.
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